Mit dem Wochenplan für die Abende war 1925 auch ein Arbeitsplan für die Werktage eingereicht worden:
Ob dieser Plan nur der Form halber für die Schulbehörde aufgestellt wurde oder ein Experiment mit einer "Errungenschaft" der russischen Oktoberrevolution, der 10-Tage-Woche, war, lässt sich nicht mehr feststellen. Was - wie auch schon im "Wochenplan für die Abende" - deutlich wird, ist der große Wert, der darauf gelegt wurde, Englisch als Fremdsprache zu erlernen. Selbst Kinder fingen manchmal schon im zweiten Jahr auf der Walkemühle mit dem Englisch-Unterricht an. Wann und wie viel Englisch-Unterricht gegeben wurde, hing ganz davon ab, ob gerade jemand auf der Walkemühle war, der Englisch unterrichten konnte. Als obige Pläne 1925 entstanden, war dies gerade der Fall: Eine englische Lehrerin war in der Schule zu Besuch. In Zeiten wie dieser, ließ man für den Englisch-Unterricht anderen Unterricht ausfallen und richtete auch noch englische Abende ein , in denen man über die englische Geschichte redete oder englische Literatur las. Zu anderen Zeiten gab es auf der Walkemühle manchmal auch gar keinen Englischunterricht; oder wenn mehrere Engländer als Schüler da waren, lernte man folgendermaßen: Ein Schüler: "Ich habe mit einem Engländer aus Dover drei Jahre nebeneinander gewohnt. Er hatte den Auftrag, mir Englisch beizubringen, und ich hatte den Auftrag, ihm Deutsch beizubringen. Er hat dann Deutsch gelernt, ich habe aber kaum Englisch gelernt." (Willi Warnke) Überhaupt war die Schule international. Im Melderegister der Gemeinde Adelshausen, zu der die Walkemühle gehört, sind eine ganze Reihe von Schülern aus folgenden Ländern aufgeführt: England, Chile, Österreich, Santo Domingo, China, Tschechei, Bulgarien, Schweiz, Ungarn, USA, Holland. (55) Doch international war die Schule auch noch in einer anderen Beziehung. "Die internationale Solidarität wurde von uns hochgehalten". (Emmi Gleinig) So war beispielsweise einmal ein Inder in der Walkemühle, der von dem Kampf um die Unabhängigkeit Indiens von England berichtete. Dazu wurden dann besondere Diskussionen über Gandhis Idee über Gewaltlosigkeit geführt, aber auch für einige Zeit gefastet, um mit dem so gesparten Geld, Gandhi dann auch zu unterstützen. (56) Gefastet wurde dann auch noch einmal anlässlich eines Bergarbeiterstreiks in England, "um die Kumpels zu unterstützen." (Emmi Gleinig) Der Versuch, die Schule in noch einer weiteren Hinsicht international werden zu lassen, misslang jedoch: Im Frühjahr 1927 reisten Minna Specht und Leonard Nelson gemeinsam nach Moskaus, um "für unsere praktische pädagogische Arbeit, wie wir sie in unserer Schule treiben, Verständnis zu wecken und, wenn möglich, Interesse dafür, einen ähnlichen Versuch in Sowjetrussland in die Wege zu leiten." (57) Allerdings fand Nelson in Moskau nicht die erwünschte Resonanz. Zwar versprach ihm Lunatscharski, der damalige Kommissar für Volksaufklärung, auf seiner Rückreise von Frankreich nach Moskau die Walkemühle zu besuchen, doch unterblieb - sicherlich nicht nur aus technischen Gründen - die Erfüllung dieses Versprechens. Minna Specht war bereits zwei Jahre zuvor mit einer internationalen Lehrer-Delegation auf Einladung des russischen Arbeiterbildungsverbandes in der SU gewesen und hatte die Einladung Nelsons angeregt. (58) Minna Specht kam durch diese Russlandbesuche in ihrer bürgerlichen Verwandtschaft in den Verdacht, Kommunistin zu sein. Anhand einer Episode, die diesen Verdacht zum Anlass hat, kann man sich ein gutes Bild von Minna Spechts Herkunft machen und damit dann auch verstehen, wie viel sie schon hinter sich gelassen hatte, als sie auf der Walkemühle arbeitete: Nach dem Zweiten Weltkrieg, also mehr als zwanzig Jahre nach dem Geschehen, sitzt Minnas ältere Schwester, "Witwe eines richtigen Hamburger Kaufmanns", in ihrer Villa mit einigen Verwandten zusammen. Die Villa liegt in der Nähe der beiden von der Familie verkauften Schlösser Reinbek und Friedrichsruh. Bismarck, zu dem man "zu seinen Lebzeiten Verbindungen gehabt hatte", ist in letzterem inzwischen begraben worden. Man kommt auf Minna zu sprechen. Zwanzig Jahre hatte es nun das in der Verwandtschaft gegeben, dass eine Tochter der Familie Kommunistin geworden ist, nun will man es genau wissen und fragt jemanden, den man für informiert hält, "ob es wirklich stimmt, dass Minna damals in einem roten Sonderzug nach Moskau gefahren ist ?... in die Zentrale des Bolschewismus!" (59) Neben den Berichten von Schülern und Lehrern aus der Walkemühle gibt es noch zwei Besichtigungsprotokolle der Schulaufsichtsbehörden über den Unterricht. Ob sie mehr über die Schulaufsichtsbehörden als über die Walkemühle aussagen, ist nicht genau auszumachen. Beiden Aufzeichnungen gemeinsam ist ein weitgehendes Unverständnis dem Unterricht gegenüber. Doch wo der Schulrat den Unterricht der Erwachsenen fast ausschließlich mit den Worten der Lehrer der Walkemühle beschreibt, weil er sich der Sache wohl nicht ganz gewachsen fühlt, ist das für den Regierungsdirektor aus Kassel einfacher: Was er nicht begreift, taugt nichts. Eine Mitarbeiterin Nelsons über den Schulrat: "Dem Schulrat hat natürlich manches nicht gepasst, aber er hatte es da mit kompetenten Lehrern zu tun, die ihm an Wissen weit überlegen waren. Denen konnte er kaum etwas sagen, wo er dann auch einer Diskussion darüber standhielt." (Nora Platiel) Ein Schüler: "Der Schulrat kam in den letzten Jahren sehr oft zu uns, weil er auch Angst hatte und sich gegenüber allen Aufsichtsbehörden absichern wollte." (Willi Warnke ) Der Schulrat: "Dem Unterricht der Erwachsenen (neun erwachsene Schüler im Jahre 1928, R.G.), den z. Z. drei Lehrkräfte erteilen, habe ich nur einmal beigewohnt. Sämtliche Schüler zeigten bei sicherem Wissen einen hohen Grad von Denk- und Urteilsfähigkeit. Der Unterricht zweier Lehrender - Fräulein Specht als Leiterin und Dr. v. Rauschenplat - war geradezu vorbildlich. Ein Problem wurde aufgeworfen und unter Anstrengung aller Kräfte, sowohl des Geistes als auch Gemütes, arbeiteten die Schüler, nur ganz leise, fast unmerklich geleitet von den Lehrenden; ein Baustein nach dem anderen auf dem Wege zu dem Gedankengebäude wurde herbeigetragen, ein Hemmnis nach dem anderen wurde erkannt, eigentätig wurden die Ursachen erforscht und die Mittel aufgefunden zur Beseitigung desselben, so dass zuletzt, befreit von allem Unwesentlichen, Zufälligen, die Klarheit Verhüllenden der gesuchte Allgemeingedanke - das Problem - licht und hell in Erscheinung trat und nach Bewältigung der Schwierigkeiten bei allen - auch den Zuhörern - ein starkes intellektuelles Gefühl ausgelöst wurde. Da waren alle die Wesensmerkmale der neuzeitlichen Arbeitsschule beisammen: das Erkennen eines Problems, das selbsttätige Wegesuchen zu seiner Lösung, das Erkennen der Mittel, das stufenmäßige Durchlaufen des Arbeitsganges. Für eine bestimmte Lebensstellung bzw. für einen bestimmten Beruf wird angeblich nicht vorbereitet. Die Schüler, die fast alle nur Volksschulen besucht, dann eine zeitlang im werktätigen Leben gestanden haben, - eine Schülerin ist Stenotypistin, ein Schüler Schlosser gewesen - gaben auf die Fragen, was sie werden wollten, die Antwort: "Menschen!" Besonderes Gewicht wird im Unterricht auf Erkenntnis wirtschaftlicher, staatsbürgerlicher, geschichtlicher und naturkundlicher Art gelegt. Die Bücherei, die die Schüler in ihren Arbeitsstunden benutzten und die ich durchsah, wies für Geschichte Werke von der äußersten linken bis zur äußersten rechten Richtung auf. Es fehlten weder Marx und Engels noch auch H.v.Treitschke und Dietrich Schäfer. Dass auch hier auf Körperpflege großer Wert gelegt wird, ebenso auf die Ausbildung der Hand im Werkunterricht, sei nur angedeutet. gez. Schmidt." (60) Der Regierungsdirektor: "Die nicht mehr schulpflichtigen Insassen der Anstalt arbeiten im Arbeitsgemeinschaften, deren Hauptziel es sein soll, die Schüler jeglichem Dogmatismus frei zu machen. Dr. v. Rauschenplat leitet eine A.G., die die Frage der Zweckmäßigkeit größerer und kleinerer Betriebe in der Landwirtschaft erörterte. Hier konnte immerhin eine gewisse Zielstrebigkeit der Verhandlung und die Erreichung einiger, wenn auch kleiner Fortschritte bemerkt werden. Der A.G. des Gustav Heckmann, die die Untersuchung der Abhängigkeit der Stromstärke als Unterrichtsstoff hatte, fehlten diese Eigenschaften gänzlich. Jeder Schüler ging anscheinend einen anderen Gedankengang nach, das Ergebnis der Stunde war gleich Null. Außerordentlich erschwert wurde die Arbeit allerdings dadurch, dass zwei von vier Schülern Ausländer (ein Engländer, ein Franzose) waren, die das Deutsche weder sinngemäß sprachen, noch verstanden. gez. Dr. Kuchen." (61) Ein Schüler: "Für die waren wir ja doch Dreck!" (Willi Schaper) Im Herbst 1931 wurde die Erwachsenenabteilung auf der Walkemühle geschlossen, nur die Kinder mit einigen Lehrern und Helfern blieben. Der erste durchschlagende Wahlerfolg der Nazis in Hessen veranlasste den ISK dazu, alle Kräfte auf den Kampf gegen den drohenden Faschismus zu konzentrieren. Dazu wurde eine eigene Zeitung gegründet, "Der Funke, Tageszeitung für Recht, Freiheit und Kultur", und ein Wahlbündnis von Sozialdemokraten und Kommunisten propagiert, um die Nationalsozialisten zu stoppen. Und es war für den ISK selbst erstaunlich, dass eine so kleine Gruppe von Menschen vierzehn Monate lang bis zum Verbot durch die Nazis in der Lage war, eine Tageszeitung herauszugeben und zu vertreiben. Ab Herbst 1931 gab es also keine Schule der Erwachsenen mehr in der Walkemühle, dafür fanden jetzt öfter Kurse von nur kurzer Dauer statt, die es vorher meist nur ein- oder zweimal im Jahr gegeben hatte. (Gustav Heckmann) In diesen Kursen, die meist von 14tägiger Dauer waren, bekamen ISK-Mitglieder oder ihnen nahestehende politisch Arbeitende Unterstützung in ihrer praktischen Arbeit (Emmi Gleinig). Die Kurse fanden getrennt vom übrigen Schulunterricht im Akademiegebäude statt, "denn die hatten für sich ihre Probleme." (Hedwig Urbann) Einem Bericht der Gesellschaft der Freunde der Philosophisch-Politischen Akademie (GFA), dem Finanzierungsverein der Walkemühle ist dazu folgendes zu entnehmen: "Kurse: Vom 18. bis 21. Mai 1932 fand in der Walkemühle ein Kurs mit rund 30 Lehrern statt. In der ersten Hälfte des Kurses wurde die Frage der Bekämpfung der Wirtschaftskrise unter der Leitung von Helmut v. Rauschenplat behandelt, in der zweiten Hälfte Schulfragen unter der Leitung von Rudolf Küchemann. Ebenfalls in der Walkemühle fand die vierte Pädagogische Woche der ,Freunde der sokratischen Methode' statt, und zwar in der Zeit vom 6. bis 11. Oktober 1932. An der dritten Woche hatten neunzig Personen teilgenommen; zur vierten Woche lagen trotz der Krise erfreulicherweise wesentlich mehr Anmeldungen vor. Durch Ausladungen gerade solcher Lehrer, die schon an mehreren Pädagogischen Wochen teilgenommen hatten, wurde die Zahl der Teilnehmer auf neunzig begrenzt, die in der Hauptsache in vier Gruppen arbeiteten. ... Als Themen standen auf dem Kurs zur Diskussion: ,Religion und Erziehung' und ,Nation und Erziehung'. Beide Themen stellen heute jeden ernsthaften Lehrer vor Entscheidungen; denn der Kampf um ein Reichsschulgesetz droht. Die nationalistische Bearbeitung der Jugend wird von Staats wegen immer stärker erzwungen.... Es gelingt selten, in einem Anfängerkurs in sokratischer Methode in der Lösung solcher Probleme wie die der beiden genannten in wenigen Tagen erheblich vorzudringen; zu zahlreich sind die Vorurteile, die über solche Dinge in den Köpfen festsitzen; zu groß die Verheerungen, die das Schlagwort und die verständnislose Lektüre unverständlicher Bücher auf diesen Gebieten angerichtet haben. Was aber bereits in einem Anfängerkurs gelingt, ist die Erschütterung der Vorurteile, das schrittweise Abbauen von Dogmen, das Wecken des Sinns für Kritik, für gewissenhafte Behandlung solcher Fragen. So wächst langsam eine Ahnung davon, dass es möglich ist, kraft eigenen Denkens hier sicheren Grund zu fassen, und aus längerer Übung in der sokratischen Methode erwächst dann die Gewissheit jener Möglichkeit: das sichere Selbstvertrauen der Vernunft. Der Weg dahin ist für die Erwachsenen mit besonders vielen Mühen gepflastert - wegen der Menge der Vorurteile, die sie mitbringen. - Für die Erwachsenen ist die sokratische Methode zunächst meist eine Schinderei: eine Schinderei freilich, deren heilsame Wirkung man bald spürt. Es war wohl auch auf dieser Woche der ,Freunde der sokratischen Methode' der stärkste Eindruck, Kinder in sokratischem Gespräch sehen, bei einem Thema, das der Erforschung nicht die Schwierigkeiten entgegensetzt, wie die Fragen der Religion, der Nation, der Erziehung. Dieses Mal hatten die Kinder zwei Themen vor: eins aus der Geometrie und das andere: wie groß die Wurzel aus 2 ist. Ohne die Behinderung durch Vorurteile hantierten die etwa zwölfjährigen Jungen miteinander, mit einer Heiterkeit, einer so wohltuenden Ruhe, einer tiefen Vertraulichkeit mit den Dingen, die sie erst erforschten; alles das, ohne dass der Lehrer in das freie Spiel ihrer Selbsttätigkeit eingriff, indem er sich etwa selber zu dem Thema geäußert hätte. Es ist schwer, dies zu schildern, was so beglückend anzusehen und zu hören war, dass man stundenlang gespannt hätte zuhören können. Was hier in solcher Reinheit zum Ausdruck kam, enthüllte den tiefsten Sinn der sokratischen Methode: es geht um das heute fast verschüttete Gut der Geistesfreiheit; das will die sokratische Methode fassen. Den freien geistigen Verkehr der Geometrie und Arithmetik treibenden Kinder dort zu sehen, das zeigt schlagartig, was durch den Ansturm der kirchlichen und nationalistischen Reaktion auf die Schulen vernichtet wird." (62) Damit ist das Kapitel über die Erwachsenenabteilung in der Walkemühle zu Ende. Bevor nun die Schule der Kinder beschrieben wird, soll dargestellt werden,
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