7 Wie man auf die Walkemühle kam Erste Geschichte Von einem 1924 in Göttingen arbeitslos gewordenen Jugendlichen - eine Gänseleberpastetenfabrik hatte aus Mangel an Rohstoffen zugemacht, und da sein Bruder aktiver Gewerkschaftler war, wollte ihn niemand mehr anstellen: "Ich geriet 1924 durch meinen Bruder in Göttingen in den Internationalen Jugendbund; mein Bruder gehörte demselben schon an. Das war nicht so, als wenn man einem Verein beitritt. Ich wurde zuerst in so einen äußeren Kreis eingeladen, gelegentlich, Mittwoch nachmittags, auch manchmal abends, nahm ich an Aussprachen teil, die in Form von Arbeitsgemeinschaften nach der sokratischen Methode gehalten wurden. Der Leiter war meist Willi Eichler. Daneben war ich auch noch bei den Jungsozialisten, die damals ein Diskutierklub für junge Mitglieder in der SPD waren. Durch diese Veranstaltungen geriet ich also in den IJB und wurde eines Tages gefragt, ob ich für eine Zeit von drei oder vier Jahren auf die Walkemühle wollte. Da ich Interesse besaß, wurde ich nun gebeten, Leonard Nelson in seiner Wohnung im Nikolausberger Weg in Göttingen aufzusuchen. Der wohnte da im Dachgeschoss eines Professorenhauses, ein paar kleine Stübchen und Kämmerlein, ziemlich einfach alles, und er hat sich dann eine Stunde mit mir unterhalten. Man legte damals nicht so viel Wert darauf, Leute in die Walkemühle zu kriegen, die bereits in irgendwelchen anderen Jugendorganisationen, z.B. bei den Kommunisten, mit Marxismus schon geschult worden waren. Man legte dagegen besonderen Wert darauf, nach der Walkemühle junge Arbeiter und Arbeiterinnen zu bekommen. Wahrscheinlich deshalb, weil Nelson bei seinen Versuchen mit Intellektuellen bisher immer enttäuscht worden war. So kam ich Anfang 1925 in die Walkemühle, wahrscheinlich als einer der ersten, denn alles war noch so im Anfang, dass vordem von einem geregelten Schulbetrieb wohl noch nicht gesprochen werden konnte." (Helmut Schmalz) Hinzufügung Über die Situation zu Beginn der Schulungsarbeit in der Walkemühle: Nach dem Weggang Wunders hatte Nelson zusammen mit der neuen Leiterin der Walkemühle, Minna Specht, sein Erziehungsexperiment ganz nach seinen Vorstellungen einrichten können und hatte keine Rücksicht mehr auf andere Konzeptionen nehmen müssen. Die Walkemühle wurde geplant für die Erziehung von Kleinkindern bis zu Erwachsenen; jedoch konnte zuerst nur die Erziehungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen begonnen werden, da man so an die bestehende Arbeit des IJB anknüpfen konnte. Man begann im Frühjahr 1924 mit vier Schülern in der Erwachsenenabteilung; diese vergrößerte sich in den darauffolgenden Jahren schnell auf etwa fünfzehn Schüler, mehr als dreißig sind es jedoch auch bei Schließung der Erwachsenenabteilung im Jahre 1931 nie gewesen. Die Abteilung der Kinder wuchs dagegen langsamer. 1926 waren es drei, 1928 fünf, 1930 zehn und 1933, bei der Zwangsschließung der Schule durch die Nazis, waren schließlich 22 Kinder auf der Walkemühle. Diese Entwicklung der Kinderabteilung ist damit zu erklären, dass am Anfang hauptsächlich jüngere Menschen durch den IJB mit Nelson in Kontakt standen. So gab es dort wenig Kinder, und es konnten sich auch nicht alle der dem IJB nahestehenden Eltern entschließen, ihre Kinder in die Walkemühle zu geben. Kurz vor 1933 - der IJB war längst in den Internationalen Sozialistischen Kampfbund übergegangen - änderte sich dies, da die politisch aktiven Eltern zu jener Zeit mit so großem Einsatz gegen den drohenden Faschismus ankämpften, dass viele ihre Kinder nicht mehr bei sich behalten konnten. Zweite Geschichte Einer, der dort Lehrer wurde: "Nun, wenn man in Göttingen studierte und überhaupt philosophisch interessiert war, konnte man die Gestalt Leonard Nelsons nicht übergehen. Das war ganz unmöglich. Er war offensichtlich der Eindrucksvollste im Bereich der Philosophie zu meiner Zeit. Da er neben seiner philosophischen Lehrtätigkeit - und als Konsequenz seiner ethischen Lehre - eine politische Aufgabe sah, war er und waren seine engeren Mitarbeiter natürlich immer auf der Ausschau nach Menschen, die für so etwas in Frage kamen. Und da ich mich in einem Fall, der innerhalb der Universität und nicht nur dort passiert war, politisch engagiert hatte, kam ich in den Kreis des IJB. Es gab damals den Skandal um den Privatdozenten für Theologie, Otto Piper. Der war radikaler Pazifist und hatte in seiner Wohnung zwei französische Studenten beherbergt, die auf der Durchreise waren von Frankreich nach Kopenhagen zu einer Tagung des internationalen Versöhnungsbundes. Piper gehörte dem Versöhnungsbund an. Nun, es war 1923, das war die Zeit der Ruhrbesetzung durch die Franzosen, alles war aufgeregt nationalistisch, und als es sich in Göttingen herumsprach, zogen nationalistische Studenten in großen Rudeln in die Wohnung von Piper, trafen nur Frau Piper und verlangten von ihr die Herausgabe der Franzosen. Sie konnte nichts daran ändern. Dieses Studentenrudel nahm die Franzosen in die Mitte und brachte sie unter taktlosem Absingen von "siegreich wollen wir Frankreich schlagen" zum Bahnhof, und Göttingen war wieder "sauber". Was passierte: Piper wurde von der Polizei verhaftet, in Schutzhaft genommen und saß mehrere Tage. Eine Göttinger Zeitung schrieb: "Wie lange wird die Bevölkerung Göttingens einen solchen Mann als Lehrer ihrer Jugend sich gefallen lassen." Den Studenten mit Hausfriedensbruch passierte gar nichts. Dieses veranlasste einen Freund und mich, in der Studentenschaft und überall, wo wir konnten, Unterschriften zu sammeln für eine Erklärung, in der Piper das Vertrauen als akademischem Lehrer ausgesprochen wurde. So kam ich zu dem Kreis um Nelson, um deren Unterschriften zu kriegen, und dann war es geschehen. Ich wurde nun manchmal zu einem Kurs des IJB eingeladen - Mitglied im IJB bin ich jedoch niemals geworden; es wäre sicher dazu gekommen, aber dann wurde ja der ISK gegründet. Irgendwann lernte ich dann Nora Block, eine Mitarbeiterin Nelsons, kennen, die mir vorschlug, ich könnte Lehrer in der Walkemühle werden, was mich kolossal faszinierte. So etwas wird einem ja nicht alle Tage geboten. An der Universität hatte ich bis dahin promoviert in theoretischer Physik bei Max Born, der auch mit Nelson befreundet war. Ich war dann noch einige Zeit an der Universität geblieben und hatte einige Probleme der Physik weiterverfolgt, hatte aber die Absicht, Staatsexamen zu machen." (Gustav Heckmann) Dritte Geschichte: Eine junge Frau "Ich hatte einen inneren Widerstand, weil ich noch nicht wusste, ich war mir noch nicht sicher, ob ich die Forderungen, die der ISK stellte, erfüllen kann, ob ich überhaupt schon übersehen kann, was da alles auf mich zukommt. Und ich kannte mich, ich wusste, wenn ich mich mal entscheide, dann entscheide ich mich, ich laufe nicht eines Tages wieder davon, und ich entscheide mich jetzt nur, weil man es von mir wünscht, das ist nicht mein Lebensstil. Das hatte ich von meinem Vater, der sagte immer: ,Du kannst machen, was du willst, aber überleg dir die Konsequenzen deines Handelns; und wenn du es dann tust, nachdem du dir die Konsequenzen überlegt hast, dann musst du deine Suppe auslöffeln.' Das war sein Grundprinzip der Erziehung, und das hatte auf mich immer einen großen Einfluss. Ich habe mich immer gedrückt, von mir aus habe ich überhaupt nie was dazu gesagt. Eines Tages sagte Minna dann: ,Nun wird es aber Zeit, dass du dich entscheidest.' Ich hatte kein Argument mehr zu sagen: ,Nein', und man war auch noch nicht so weit, dass man die Argumente immer schon so zur Hand hatte. Das kam erst viel später, nachdem man die Dinge übersah. Und so ging ich in den Kurs hinein, voller Widerstand. Das war ein Einführungskurs zur Mitgliedschaft im ISK in der Walkemühle. Und dann ging das los, über Philosophie, über alle möglichen Probleme, die anstanden, und ich sagte nichts. Ich hatte irgendwie das Gefühl: ,Ich sage nichts', und ich sagte auch nichts. Plötzlich wurde es dann Minna zu dumm. Sie war Leiterin in diesem Erziehungskurs; der bestand nur aus fünf Leuten, die alle sprachen, mir machte das aber keinen großen Eindruck. Ich wollte nicht! Und dann sagte Minna plötzlich: ,So, entweder du sagst jetzt was zu der Sache, oder du verlässt den Raum!' Ich habe den Raum verlassen, dann bin ich runter in die Küche und habe vor lauter Freude die Topfdeckel zusammengeklopft und habe gedacht: ,Das bin ich los! Das bin ich los!' Ja, und später, nachdem ich dann in Göttingen ins Leben wieder hineinkam, nachdem ich die Walkemühle wieder verlassen hatte, da habe ich mich freiwillig entschlossen. Nachdem mir ganz klar war, was ich vor mir hatte. Ich fand das auch nicht ganz richtig von Minna, einen mehr oder weniger hineinzudrücken, denn sie musste ja den Widerstand von mir gemerkt haben. Ich hatte auch schon mal zu ihr gesagt: ,Ich weiß nicht, ob ich die Forderungen von Nelson je erfüllen kann.' Minnas Antwort war da: ,Du kannst nicht, also willst du nicht.' Aber sie hat sehr mit mir gekämpft, um mich da eben doch hineinzubringen durch Verstandesgründe. Aber ich muss sagen, ich habe auch noch nachher gekämpft, die zwei Jahre, die ich dann als ISK-Mitglied in der Walkemühle war, waren hart, und ich bedaure nicht, dort gewesen zu sein. Ich habe sehr profitiert. Erst einmal habe ich meine eigenen Kräfte messen müssen, besonders auch, da ich dort nicht alles geschluckt habe, willensmäßig und auch verstandesmäßig. Minna hat das dann später auch verstanden, die hat das sehr verstanden." (Emmi Gleinig ) Hinzufügung Schüler, Lehrer und Helfer schildern die Härte der Bedingungen, die man auf der Walkemühle antraf. Eine Schülerin: "Es war oft nicht einfach. In der Walkemühle mussten erwachsene Menschen unterschiedlicher Lebenskreise und Bildung miteinander und mit den Kindern auskommen. Kinder, erwachsene Schüler, Lehrer und Helfer lebten ja zusammen in einer Lebensgemeinschaft und teilten sich die täglichen Arbeiten wie zum Beispiel auch den Abwasch in der Küche. Zuvor hatte jeder sein eigenes Zimmer, doch das war niemals verschlossen, und man konnte immer hineingehen. Nur wenn jemand seine Ruhe haben wollte, dann hängte er ein Schild draußen an die Tür: ,Bitte nicht stören'. Trotz eigenem Zimmer war es jedoch eine große Anforderung an den einzelnen, sich in die Gemeinschaft hineinzufinden, in der fast alle Bereiche des täglichen Lebens gemeinsam geregelt wurden. Ein Hinweis, wie streng die Schule für die erwachsenen Schüler war: Sie konnten nur über die Leiterin Minna Specht mit Leuten außerhalb korrespondieren, sie sollten ständig in Klausur arbeiten, um ganz intensiv für diese Sache da zu sein. Ich war während der tollen Inflationszeit Schülerin auf der Walkemühle, so habe ich das gar nicht mitmachen brauchen. Mein Mann war in Kassel Beamter und kriegte zu der Zeit jeden Tag das Geld. Da musste dann gleich dafür eingekauft werden. Mein Mann hatte eine Bekannte von uns zu Hause, die für seinen Haushalt sorgte, er war ja den ganzen Tag im Büro. Und als ich zum zweiten Mal für einige Zeit in der Walkemühle war, da war da noch ein Junge bei mir zu Hause, den ich mir aus dem Kinderheim geholt hatte. Auch zu der Zeit habe ich keine Verbindung nach Kassel gehalten. Ich durfte nicht schreiben, und man durfte mir nicht schreiben, es sei denn man schrieb an Minna Specht, die hätte das dann gelesen und entschieden, was sie mir davon weitergegeben hätte. Denn man sagte sich so: ,Wenn dieses Menschenkind sich auf die Arbeit konzentrieren will, dann darf es nicht beunruhigt werden.' Es hätte zum Beispiel sein können, dass mein Mann geschrieben hätte: ,So geht es nicht, wir müssen jemand anderen in den Haushalt haben, sorg mal dafür.' Manche fanden das natürlich grausam, obwohl die Schüler sich dieses Gesetz selbst gegeben hatten. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass von außen ein furchtbarer Kungel in die Walkemühle kommen kann. Man wusste also, warum und weswegen man diese Verpflichtung auf sich nahm. Man hat aber in keiner Weise dort dann als Einsiedler gelebt, man musste ja doch mit der Welt in Verbindung bleiben, die man verändern wollte." (Grete Mayr-Eichenberg ) Ein Lehrer: "Das war natürlich hart, auch für mich war es sehr hart, zunächst den Briefkontakt mit meinen Eltern aufzugeben; das hörte dann bei mir nachher auf, das war für die Schüler, die maximal drei Jahre da blieben, durchführbar, aber für einen der als Lehrer da ständig arbeitet - ich war ja insgesamt sechs Jahre in der Walkemühle, davon habe ich das zwei Jahre lang auch so gemacht. Dann habe ich den Kontakt nach draußen aber wieder aufgenommen. Das war natürlich hart. Das war für mich vor allem dadurch zu ertragen, da Minna Specht ein ganz außergewöhnlicher Mensch war, ein wirklich genialer Erzieher und menschlich ungeheuer lebendig. Mit einem Leiter der Walkemühle, der auch nur eine Neigung zu einer bürokratischen Persönlichkeitsstruktur gehabt hätte, wäre es nicht zu machen gewesen. Minna Specht 1930 Ich habe mal in einem Aufsatz über Minna Specht als Leiterin folgendes geschrieben: ,Wenn Konflikte zwischen Minna Specht und ihren Mitarbeitern auftraten, so entsprangen sie vielfach dem Umstand, dass Minna Specht in der Schau des Ziels und des Weges ihren Mitarbeitern in der Regel voraus war. Welche Geduld musste sie bei ihrer Hingabe an die uns verbindende Aufgabe aufbringen, wenn in solchen Konflikten die gewaltfreie Lösung erreicht werden sollte! Das gelang nicht immer. Dann konnte Minna Specht durch ungeduldige Eingriffe einem Mitarbeiter die Möglichkeit, an seinem Teil selbsttätig in der Bewältigung der Aufgaben vorwärts zu schreiten, stören. Wenn aber jemand sie angriff, wegen der Gewalt, die sie ausübte, dann konnte es zwar geschehen, dass sie sich zunächst abschloss. Bald aber sprach sie den, der sie angegriffen hatte, an, nahm seine Kritik ernst und änderte ihr Verhalten.(...) Die Aufgabe, die Nelson ihr hinterlassen hatte, als er 1927 starb, stand immerfort gewaltig vor ihr, und ihre gelegentliche Ungeduld mit den Mitarbeitern war mit dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber der Aufgabe verbunden.' (34) Es war eine Lebens- und Kampfgemeinschaft von großer Strenge, spartanischer Einfachheit und sehr konzentrierter ernster Arbeit. So etwas wie Muße kannten wir da nicht. Im Tagesablauf gab es wohl eine etwas längere Mittagspause, da bin ich z. B. viel im Garten gewesen beim alten Gärtner Schwer; und dann konnte man auch schon mal für ein paar Tage weg, - richtige festgesetzte Ferien wie auf der Schule gab es ja auf der Walkemühle nicht - ; doch auch an diesen wenigen Tagen nahm man sich noch was vor. Z.B. bin ich einmal über Ostern nach Berlin in den Ortsverein des ISK gefahren, um den kennen zu lernen, und dann habe ich auch noch einmal ein Gastspiel über die von uns praktizierte sokratische Lehrmethode 1930 an der pädagogischen Akademie in Frankfurt an der Oder gegeben. Und diese mich faszinierende Aufgabe, sokratisch philosophisch und mathematisch unterrichten zu können, überdeckte bei mir die Härte der Bedingungen auf der Walkemühle." (Gustav Heckmann ) Eine Schülerin: "Als ich das erste Mal auf die Walkemühle gehen wollte, sagte mir ein Genosse aus dem ISK, der es immer verstanden hatte, nicht dorthin zu kommen, da er die Versagungen, die Strenge nicht auf sich nehmen wollte: ,Was, da willst du hin!? Dann kannst du ja gleich ins Kloster gehen!' Das war natürlich etwas übertrieben. (Emmi Gleinig ) Vierte Geschichte (Wie man nicht auf die Walkemühle kam) Eine Schülerin: "Ich weiß, dass Nelson einmal eine seiner Schülerinnen an der Universität zu Artur Kronfeld, einem Psychiater geschickt hat und den gefragt hat, ob er glaubt, dass dieser Mensch in einer solchen Organisation wie dem ISK mitarbeiten könnte. Er hat sich ja überlegt, dass er in den ISK und in die Walkemühle Menschen hineinbekam, die das bewältigten. Da hatte er bei dieser jungen Frau Zweifel und bat sie, zu einem Psychiater zu gehen. Sie ist hingegangen, und nach dem Rat von Kronfeld hat er sich dann verhalten, sie ist keine Schülerin in der Walkemühle und auch kein ISK-Mitglied geworden. Das waren die Anfänge, wo Nelson wirklich manchmal dachte: ,Das ist zuviel zugemutet, die schaffen das nicht.' " (Emmi Gleinig) Nur die fähigsten, geistig und körperlich gesunden Menschen wurden Schüler auf der Walkemühle. Dieselbe Schülerin der Erwachsenenabteilung berichtet: "Als Schüler der Walkemühle konnte man sich nicht aufs hohe Ross setzen, die Anforderungen der Schule waren einfach zu hoch, da wurde man schon kleinmütig." Und angesprochen darauf, dass bei Nelson die psychologische Sicht sehr eingeschränkt war, meinte sie: "Die Seite ist bestimmt bei ihm zu kurz gekommen, weil er eben alles mit der Ratio machte. Wenn das Experiment in der Walkemühle länger gedauert hätte, wäre das auch noch gekommen, denn Minna hatte das. Nach Nelsons Tod hat man auch revidiert. Bei mir war das ja noch sehr streng, das war bis 1928. Wie ich von denen gehört habe, die später auf der Walkemühle waren, ist vieles, vieles gelockert worden, vieles anders gesehen worden. Ich kann jetzt nicht im einzelnen sagen was, aber so streng war es nicht mehr. Das ist bewusst von Minnas Seite aus gemacht worden, und sie hat mal gesagt im ganz kleinen Kreis: ,Ich hätte ja vieles anders gemacht. Da es ein Experiment war, bin ich den Methoden Nelsons gefolgt. Ich wollte ihm zeigen, ob es so geht oder so nicht geht.' Und dann hat sie doch im Laufe der Jahre erkannt, dass es so nicht geht, und hat revidiert, mit den Kindern wie mit den Erwachsenen. Auch die vorher sehr spartanische Ernährung wurde viel besser, die sehr, sehr einfache Ernährung gab es nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus erzieherischen Gründen." Fünfte Geschichte Ein Helfer: "Ich war bis dahin Volksschüler und hatte eine abgeschlossene Lehre als Maschinenschlosser. Ich wollte in der Walkemühle noch die Mittlere Reife nachmachen, und Minna Specht hatte mir damals versprochen: ,Wenn deine Zeit herum ist,' - wir Halbschüler - ich habe noch als Helfer in der Schlosserei gearbeitet - mussten nach drei Jahren wieder raus aus der Walkemühle, da kam ein anderer herein - ,wenn deine Zeit herum ist, dann schicken wir dich auf Kosten der GFA nach Ilmenau auf die Ingenieurschule.' So wäre mein Lebenswunsch in Erfüllung gegangen, wenn die Nazis nicht gekommen wären." (Willi Warnke)
"Du bist ein Gast wie ich" (Inschrift) Sechste Geschichte Über einen Schüler aus England: "Allan wohnte in London und hatte geradeerst die Schule verlassen. Er kam aus einem Milieu, das arm war an Anregungen, und war von einer tiefen, wenn auch vagen Sehnsucht nach einem intellektuell befriedigenden Leben erfüllt, in dem er dem Sozialismus dienen wollte. Auf einem geselligen Beisammensein der rationalistischen Bewegung traf er zufällig einen Freund der Walkemühle, der sich in London aufhielt, und von dem er etwas über die Sache erfuhr. Dieser Freund spürte
das rege Interesse und die potentiellen Fähigkeiten des ungelenken
jungen Mannes, der sich nicht am Tanzen beteiligte, aber sehr daran
interessiert war, über Ideen zu diskutieren. Siebte und letzte Geschichte Ein Helfer: "1927 fand der erste Jugendkurs des ISK in der Walkemühle statt. Da bin ich dorthin gekommen. Der Kurs sollte vierzehn Tage dauern. Ich hatte gerade ausgelernt, bekam aber nur ein paar Tage Urlaub, und die Arbeitslosigkeit war 1927 so groß, dass ich nicht wusste: Behalte ich meine Arbeitsstelle oder nicht? Von dem Schlosser der Walkemühle, ein Berliner, Kurt Mietke, dem ich während des Kurses manchmal geholfen hatte, erfuhr ich, dass er einen Nachfolger suchte. Der war zweieinhalb Jahre da und wollte weg. In einem Gespräch sagte Minna Specht dann zu mir: ,Ach, wenn das schief geht mit deiner Arbeit in Hannover, kommst du zu uns.' Das kam so spontan. Da habe ich gesagt: ,Ist gut, das mache ich.' Ich musste dann noch von dem Kursus nach Hannover, um als Minderjähriger, achtzehn Jahre war ich alt, die Einwilligung meiner Eltern zu holen. Mein Vater wollte das zuerst gar nicht. Wir lebten in kümmerlichen Verhältnissen, mein Vater war Schlosser bei der Bahn. Ich habe ihn nur dadurch herumgekriegt, dass ich ihm gesagt habe: ,Was wird, wenn ich demnächst arbeitslos werde, dann sitze ich dir auf der Tasche.' Dann hat mein Vater schließlich gesagt: ,Nun gut, dann mach es.' Dann bin ich im August in die Walkemühle gegangen." (Willi Schaper)
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