Die Schüler begannen ihre Zeit auf der Walkemühle mit praktischer Arbeit. Ein Schüler schreibt über den Beginn des Unterrichts: "Wir waren erfüllt von der Hoffnung, die aus der russischen Oktoberrevolution entsprang und ... bitter enttäuscht über die Stabilisierung der kapitalistischen Welt nach dem ersten Weltkrieg. Ich kam mit 21 Jahren in die Walkemühle, bewegt von dem heißen Wunsch, ein sozialistischer Kämpfer zu werden, fähig, die harten Proben zu bestehen, die der Arbeiterbewegung auf ihrem Wege zu einer klassenlosen Gesellschaft bevorstanden. Ich hatte das Buch von Lenin ,Was tun?' gelesen und war tief beeindruckt von Lenins klarer und harter Forderung, Berufsrevolutionäre heranzubilden. Der Weg schien mir einfach vorgezeichnet zu sein: Es kam nur darauf an, das theoretische Rüstzeug zu erwerben, mit dessen Hilfe man die Welt interpretieren konnte, um sie entsprechend zu ändern. Statt uns auf Theorien und Bücher zu stürzen, wie wir das alle wünschten, mussten wir in zwei Werkstätten Holz und Eisen verarbeiten. Minna Specht, die Seele der Schule, verstand es bald, uns im Alltag unseres Gemeinschaftslebens die Notwendigkeit dieser pädagogischen Maßnahmen klarzumachen: Wir sollten ein festes und arbeitsfähiges Team bilden und lernen, die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in einer Arbeit zu überwinden, die keine Möglichkeiten zuließ zu bluffen und deren Organisierung die Mitarbeit eines jeden einzelnen erforderte. Die Schmiede Die gelegentlich aufkommenden Konflikte wurden hart und unerbittlich auf ihre Wurzeln hin untersucht. Wir sollten lernen, unseren Hochmut und unsere Empfindlichkeit zu bekämpfen ebenso wie unseren Mangel an Ausdauer und Sorgfalt. Wir revoltierten manchmal gegen diese Methode. Wir verloren oft die Geduld. Minna Specht griff in unsere Auseinandersetzungen lenkend ein mit ihrer tiefen Menschlichkeit und der Strenge ihrer Analyse. Sie zog Parallelen: ,Die Änderung unserer Gesellschaft verlangt eine Organisation von hingebungsvollen Kämpfern, frei von persönlichen Intrigen, aufgebaut auf vollkommenem geistigem Vertrauen. Wie könnt ihr euch für solch eine Aufgabe vorbereiten, wenn ihr nicht fähig seid, miteinander zu arbeiten?' " (36) Ein anderer Schüler beschreibt seine erste Zeit auf der Walkemühle: "Gleich am Anfang wird der Schüler in der Walkemühle überrascht: Die Schularbeit beginnt nicht in der Studierstube: Zunächst musste jeder Schüler in meiner Gruppe etwa ein Vierteljahr praktisch arbeiten. In der Schlosserei, in der Schreinerei und draußen, bei Uferbefestigungen der Pfieffe war das erste Betätigungsfeld. Das war nicht nur eine ausgezeichnete Gelegenheit, die uns Schüler untereinander Kontakt gewinnen ließ. Es war eine Sicherung der Schüler vor geistigem Hochmut, der leider heute so oft bei den geistig Geschulten anzutreffen ist. Und vor allem brachte diese Maßnahme uns Schülern zum Bewusstsein, dass eine gerechte und schöne Lebensweise nicht in einer bloßen Ausbildung des Geistes zu suchen ist, sondern in der unermüdlichen praktischen Arbeit für die Zwecke, die man einmal für richtig erkannt hat." (37) Ein Lehrer berichtet vom ersten halben Jahr: "Ich habe mal im Sommer mit einer Gruppe neuer Schüler zusammen in der Tischlerei angefangen Werkstattarbeit unter Hermann Beermann. Nach einiger Zeit kam Physikunterricht dazu - es ging damals um unsere Wasserversorgung, und abgeschlossen haben wir diesen Sommer praktischer Arbeit mit dreiwöchiger Arbeit in der Wolfschen Seifenfabrik." (Gustav Heckmann) Bei diesen praktischen Arbeiten lernten auch die vielen Schüler, die aus dem Ausland kamen, ihr erstes Deutsch. Durch die Verständigung über Dinge, die man sehen, hören und anfassen konnte, ging das auch relativ einfach. "Zwei Engländer sprachen schon nach vier Monaten so gut deutsch, dass sie am Unterricht teilnehmen konnten." (Willi Warnke) Die Größe dieser Schülergruppen war unterschiedlich und richtete sich danach, wie viel erwachsene Schüler insgesamt in der Schule waren (mehr als dreißig sind es niemals gewesen). Zu manchen Zeiten gab es Gruppen mit nur vier Schülern, manchmal auch wesentlich größere mit zwölf, "mehr aber nicht". (Gustav Heckmann) Die Regel war, dass die Schüler während ihrer Schulzeit diese Gruppen nicht wechselten, doch kam es trotzdem sehr häufig zu Neubildungen oder Umstellungen in den Gruppen, da die wenigsten Schüler wie vorgesehen drei Jahre auf der Walkemühle blieben. (Hedwig Urbann) Der theoretische Unterricht begann nach etwa einem halben Jahr. Ein ehemaliger Schüler schreibt dazu: "Nachdem diese Periode (der praktischen Arbeit) abgeschlossen war, wurde unsere romantische jugendliche Begeisterung für ein Leben im Dienst der sozialistischen Revolution abgelöst durch die praktische Überzeugung von der Notwendigkeit geduldiger Arbeit ohne jeden Glorienschein. (...) In dieser Geisteshaltung gingen wir an unsere theoretische Arbeit heran. Auch da erwartete uns eine Überraschung: Ehe wir uns auseinander setzten mit dem historischen Materialismus, mit der Mehrwerttheorie, mit den Begriffen der Freiheit und der Gerechtigkeit und dem Sinn der Menschenwürde, mussten wir uns im logischen Denken üben. Aus diesem Grunde widmeten wir uns sechs Monate lang der Mathematik, aber nicht wie in der Schule, in der wir daran gewöhnt waren, die Beweise von Lehrsätzen auswendig zu lernen. Hier wurden wir angeleitet, die Lösungen selber zu finden. Der Vormittag war sokratischen Diskussionen gewidmet; nach und nach erwarben wir Kenntnisse und empfanden dabei die Freude und die innere Befriedigung, der Kraft unseres Verstandes und des Vermögens unserer Vernunft bewusst zu werden. Am Nachmittag wurden Protokolle über die Diskussionen geschrieben, die dahin führen sollten, die Ausgangspunkte für die Arbeit des nächsten Tages zu finden. Diese geistige Konzentration auf eine strenge und unerbittliche Methode hat ein gesundes Selbstvertrauen in uns geweckt: die Probleme schreckten uns nicht mehr, wir hatten gelernt, mit einem Werkzeug umzugehen, mit dem wir Argumente und Theorien sezieren konnten. Nach der gleichen Methode studierten wir später Philosophie, Nationalökonomie und die Geschichte der Arbeiterbewegung." (38) Ein Lehrer erinnert sich: "Mit einer Schülergruppe, mit der ich ein halbes Jahr praktisch zusammen gearbeitet hatte, habe ich dann das Winterhalbjahr mit sokratischem Mathematikunterricht angefangen. Soviel ich mich erinnere, ging das immer im Drei-Wochen-Zyklus: Eine Gruppe hatte drei Wochen Mathematikunterricht bei mir, dann hatte eine andere Gruppe gleichzeitig bei Rauschenplat Volkswirtschaft; und wenn noch eine dritte Gruppe da war, hatte die historischen oder philosophischen Unterricht bei Minna Specht. Nachdem die Gruppen drei Wochen in einem Bereich unterrichtet worden waren, wechselten die Bereiche. Diejenigen, die z.B. bei mir Mathematik gehabt hatten, gingen die nächsten drei Wochen zu Rauschenplat und wieder drei Wochen darauf zu Minna Specht in den Unterricht. Kam die Gruppe dann wieder zu mir, ging es in der Mathematik dort am gleichen Thema weiter, wo wir gerade aufgehört hatten. Dieser sokratische Mathematikunterricht war ja in keiner Weise vorstrukturiert. Die Behandlung des einen Problems warf jeweils immer neue Probleme auf. An einen Kurs erinnere ich mich genau. Das war elementare Geometrie, wir gingen aus vom Winkelsummensatz im Dreieck, und als das fertig war, sagte ich den Schülern: ,Nun überlegt euch heute Nachmittag mal weitere Fragen, die ihr euch vornehmen wollt'. Am Abend standen dann ein paar Fragen an der Tafel. Darunter war: ,Wie berechnet man den Inhalt einer Kugel?' Das wurde gewählt und führte dann sehr schön auf die Kreisberechnung, sehr elegant, und nur von den Schülern da erarbeitet. Folgendermaßen: Man schneidet einen Kreis im Radius durch in zwei Halbkreise. In jedem Halbkreis zieht man vom Kreismittelpunkt aus Radien und - wenn man es sich jetzt aus Papier vorstellt - schneidet man diese Radien auf. Dann klappt man die Fläche des Halbkreises auseinander, so dass der Umfang des Halbkreises etwa eine Gerade bildet, das gibt dann einen Kamm. Die Länge des Kammes ist der Radius. Der andere Halbkreis ergibt ebenso einen Kamm. Die schiebt man dann ineinander und erhält als Fläche des Kreise: Radius mal halber Umfang. Das haben die Schüler so selbstständig herausgefunden. Das war dann eine solche Beschwingtheit, als sie das gefunden hatten, und nun dachten sie bei der Kugel geht es ebenso. Doch dann kamen die Schwierigkeiten, dann kam die Verzweiflung. Der in diesem mathematisch-sokratischen Kurs Produktivste war ein Metallarbeiter aus Köln, Fritz Metz. Der vergaß zeitweise sein ganzes Interesse an Politik und grübelte über diesen Kreis. Es faszinierte ihn einfach. Schüler mit Abitur hatten da keine Vorteile. Dies war ja nun auch etwas, was man auf der höheren Schule nicht lernte. Formeln spielten ja überhaupt keine Rolle bei uns Sokratischen. Mathematikunterricht beruht auf Einsicht und ausschließlich auf Einsicht. In der Schule aber verläuft der Unterricht weitgehend anders: Denken sie nur an die Art, wie Bruchrechnung behandelt wird, man kriegt Formeln, und dann wird gesagt: ,So, rechnet Aufgaben !' Hier wird ja diese Einsichtsfrage gar nicht angesprochen. Wo wäre denn die Einsicht gewonnen, dass, um zwei Brüche durcheinander zu dividieren, ich mit umgekehrtem Divisor multiplizieren muss ? Wo wäre das als Einsicht gewonnen im Schulunterricht ? So hatten im Mathematikunterricht, den wir machten, die, die auf der höheren Schule gelernt hatten, überhaupt keinen Vorsprung. Und nur ein intelligenter Mensch - in der Intelligenz gab es natürlich Unterschiede - der sich mit solch bohrendem Interesse in die Kreisberechnung hineinkniete, hatte da einen Vorsprung. Noch heute haben alle Lehrer Angst, dass sie den Stoff nicht durchbekommen. Das war uns hundeschnurz, wie weit wir kamen in einem sokratischen Unterricht. Da musste man ja nicht ein bestimmtes Ergebnis haben, da kommt es nur darauf an, dass die Einsichten, die Ergebnisse, die gewonnen werden, wirklich zu Einsichten geworden sind, so dass der einzelne sie verteidigen kann, sagen kann, aus welchem Grunde er hiervon überzeugt ist. Wie weit man da in der Einsicht kommt, spielt ja gar keine Rolle. Bei uns gab es deshalb kein Stoffproblem. Ich als Lehrer habe so in meinen sechs Jahren auf der Walkemühle auch nie ein Thema wiederholen müssen, weder in der Philosophie noch in der Mathematik. Es war dann ein wesentliches Prinzip der Walkemühle, dass man Rechenschaft ablegte, wie weit man in seiner Arbeit gekommen ist. Das tat man z.B. am Schluss eines mathematischen Kurses, am Ende eines Halbjahres: Die einzelnen Schüler berichteten vor der ganzen Schule über das, was im Unterricht passiert war. Das war in allen Kursen so. Minna Specht hatte ein ganz sicheres Gefühl, an den einzelnen Berichten zu sehen, wie fundiert das Ganze war, das stellte sich dann heraus." (Gustav Heckmann) Ein Schüler: "Aus dem, was ich selber erlebt habe, kann ich folgendes sagen: Wir haben in einem Winterhalbjahr mit Mathematikunterricht angefangen. In der Gruppe waren zwei Engländer, ein Teil Volksschüler, ein Teil Studenten, insgesamt sechs Schüler. Wir haben angefangen mit dem Winkelsummensatz im Dreieck. Ich weiß nicht mehr, wer den Anlass dazu gegeben hat, aber wir haben jedenfalls damit angefangen, nur die zwei mit Abitur haben zunächst nicht daran teilgenommen, weil die die Dinge kannten, und das so zwecklos gewesen wäre. Die hätten dann gesagt: ,so und so und so', das war ja nicht der Sinn der Sache. Als wir mit dem Winkelsummensatz einigermaßen klar waren, haben die am Unterricht dann auch teilgenommen. Wir sind, nachdem wir das Dreieck so ziemlich durch hatten - leider habe ich meine Protokolle nicht mehr, ich musste die während der Nazizeit verstecken, und weiß jetzt nicht, wo die sind - dann sind wir im Laufe eines halben Jahres bis zur Zahlentheorie gekommen und haben am Ende dieses Halbjahres vor der ganzen Schule darüber berichtet. Ich weiß noch, ich habe über das Thema ,Dichte und Stetigkeit der Zahlenreihe' gesprochen; und zwar waren alle diese Dinge wirklich aus uns selbst heraus erarbeitet. Wir hatten im Halbjahr z.B. für die Begründung des Pythagoras, ich glaube, vier oder fünf verschiedene Möglichkeiten gefunden. Jemand hatte denselben Beweis, den ein Inder gemacht hat, und ich bin auf die Lösung von Fries gekommen; das war glaube ich über das Parallelenpostulat, das weiß ich jetzt nicht mehr so genau. Wir haben diese vier oder fünf verschiedenen Beweise gefunden, ohne von den Dingen auch überhaupt nur etwas zu wissen und ohne Literatur zur Hand zu nehmen, rein aus unserer Arbeit heraus. Am Ende dieses Halbjahres haben wir dann vor der ganzen Schule Bericht erstattet. Das wurde in allen Fächern gemacht, gleich ob es sich um Physik, um Mathematik, um Geschichte oder Volkswirtschaft oder um Philosophie handelte. Und in diesem Fall war es so, dass Minna Specht angezweifelt hat, ob wir soweit denn wirklich alleine vorgestoßen wären oder ob nicht doch durch die Hintertür etwas nachgeholfen worden wäre, Sie verstehen. ... Dann sind wir furchtbar entrüstet gewesen oder ziemlich betreten und haben uns in einer Mittagspause, das weiß ich noch genau, zusammengesetzt: ,Also, das können wir auf uns nicht sitzen lassen, das können wir auf Heckmann nicht sitzen lassen. Was sollen wir machen?' Und irgendjemand hat dann vorgeschlagen: ,Wir können ja mal an diesem Punkt, an dem wir stehen geblieben sind, für ein paar Stunden weitermachen und ihnen das vorexerzieren.' Das haben wir auch drei oder vier Stunden gemacht. Die Lehrer haben zugehört. Und ich weiß noch genau, dass Specht dann irgendwann gesagt hat: ,Ja also, jetzt sehe ich, dass das so zustande gekommen ist.' " (Willi Schaper )
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