10 Beispiele des Lernens: Unterricht, praktische Arbeit, Fahrten und manches andere... Im Unterricht zuallererst vom Verstehen der Schüler auszugehen und sich nicht auf Scheinerfolge durch nur auswendig gelerntes Wissen einzulassen, dieses Prinzip galt nicht nur im sokratischen Philosophie- und Mathematikunterricht, sondern auch in allen anderen Fächern. Besonders deutlich wird das daran, dass auch in Physik, Volkswirtschaft und Geschichte oft von "sokratischem Unterricht" geredet wurde, obwohl diese Methode der Erkenntnisgewinnung allein für die Philosophie und die Mathematik als gültig erachtet worden war. "Sokratischer Unterricht" bedeutete hier wohl mehr die Form des Unterrichts, das weitgehend zwischen den Schülern selbst-gesteuerte Gespräch, wo es zuallererst darauf ankommt, den Unterrichtsgegenstand wirklich verstanden zu haben.
Folgende Beispiele, die Schülern noch nach mehr als vierzig Jahren in Erinnerung sind, sollen das deutlich machen: 1. "In der Physik sind wir beim Fallgesetz. Der Physiklehrer erzählt uns, dass der Fallweg eines Körpers in gleichen Zeitabständen im Verhältnis der ungeraden Zahlen wächst. Ich sage: ,Das kann ja jeder sagen, das wollen wir sehen!' Ich habe dann Kugeln aus dem Kugellager eines Fahrrads aufgebohrt, alle auf einen Faden gezogen, mit im Verhältnis der ungeraden Zahlen größer werdenden Abständen. Dann haben wir die Schnur fallengelassen. Die Abstände zwischen den einzelnen Aufschlägen, die wir hörten, waren genau gleich. Das war der Beweis." (Willi Warnke) 2. "Dann ging es einmal um die Messung der Frequenz einer Stimmgabel. Wie konnten wir feststellen, dass die Stimmgabel der Musiker genau mit so und so viel Schwingungen in der Sekunde schwingt ? Dazu haben wir uns eine Rutsche aus Buchenholz gebaut, die richtig poliert und auf der Stimmgabel eine Nadel angebracht und daran vorbei dann eine gefärbte Glasplatte gleiten lassen. Aus der Spur, die die schwingende Nadel auf der Platte aufgezeichnet hatte, und der Geschwindigkeit der Platte konnten wir dann die Schwingungsfrequenz ermitteln." (Willi Warnke) 3. "Ein Halbjahreskurs behandelte einmal die Schwierigkeiten der Energieversorgung auf der Walkemühle. Die eigene Turbinenanlage lieferte oft zu wenig Elektrizität, da zu wenig Wasser in der Pfieffe floss. Zu entscheiden war nun in dem Kurs, ob zusätzlich ein Dieselmotor angeschafft werden sollte oder ob der Anschluss ans öffentliche Netz kostengünstiger sei. Hierzu wurden dann sowohl physikalisch-technische Messungen und Rechnungen gemacht, als auch das Ganze unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Zur Beurteilung wurden die Ergebnisse dieses Unterrichts einem Mann geschickt, der von Wirtschaftsfragen was verstand, nämlich Max Wolf, dem Inhaber der Seifenfabrik in Schlüchtern." (Gustav Heckmann) Nachdem durch die Beschäftigung mit Mathematik und Naturwissenschaften (neben der Physik manchmal auch noch Chemie, Geologie und Geographie) die Beobachtungsgabe und die logische Denkfähigkeit geübt worden waren, wurden Fragen der Volkswirtschaft, der Geschichte und der Philosophie vorgenommen. Diese "Grundgebiete der politischen Urteilsbildung" behandelte man ab dem zweiten Schuljahr. (40) Beispiele aus dem Volkswirtschaftsunterricht Ein Schüler: "Ich habe auf der Walkemühle eine Menge gelernt. Vor allen Dingen, dass es nicht darauf ankommt, ganze Seiten aus dem statistischen Jahrbuch auswendig zu lernen, sondern dass es darauf ankommt, dass man weiß, wo das steht, und dass man so ungefähre Größenvorstellungen hat. Bei Minna Specht haben wir uns z.B. damals mit der Geo-Politik auseinandergesetzt, die damals von einem Prof. Obst aus Hannover hochgespielt wurde, später von den Nazis missbraucht. Eine neue Wissenschaft, die behauptete, dass geographische Faktoren einen furchtbar großen Einfluss auf den Ablauf der Politik hätten. Ein bisschen war dies die Verschleierung der Tatsache, dass die Kolonialmächte die Kolonien materiell ausgebeutet haben. Minna Specht pflegte uns das klarzumachen, indem sie sagte: ,Das sind also Menschen, die behaupten, die Engländer hätten Indien erobert und zur Kolonie gemacht, weil die Passatwinde dort sehr günstig wehen.' Außer ihr gab es 1925 noch einen zweiten Lehrer, Helmut von Rauschenplat, der unterrichtete Volkswirtschaft. Er war furchtbar dünn, hatte auch schrecklich dünne Beine und sah also in seiner Kluft mit den Shorts aus wie Ghandi. Ein tüchtiger Pädagoge. Wir haben unter der fachkundigen Leitung von Helmut von Rauschenplat Karl Marx ersten Band von Anfang bis zur letzten Seite durchgelesen, vom Anfang bis zur letzten Seite. Es gibt wenige Leute, die das haben. Dann haben wir auch noch Adam Smith, Ricardo und Franz Oppenheimer gelesen, und über Oppenheimer bin ich gestolpert. Das war mir einfach zu simpel, dass noch kein Mensch vor ihm auf die Idee gekommen war, den Großgrundbesitz abzuschaffen, denselben aufzusiedeln, und dann war der Kapitalismus weg, und wir lebten herrlich und in Freuden im liberalen Sozialismus. Das ging mir als Proleten einfach gegen den Strich, das konnte ich nicht glauben. Von da an war ich aufmüpfig. Oppenheimer wies aus Karl Marx' erstem Band nach, dass der Kapitalismus nur funktioniert, wenn eine ständige industrielle Reservearmee in Form von Arbeitslosen da ist, welche die Löhne drücken. Wo es das nicht mehr gibt, bricht der Kapitalismus zusammen. Die Quellen dieser Reservearmee, die großen Güter, sollten durch ihre Aufteilung beseitigt werden, dann ginge alles klar. Durch sorgfältiges Studium der Bevölkerungsstatistik stellte ich aber fest, dass die große Masse der Menschen gar nicht aus den Gebieten des Großgrundbesitzes in die Städte wandert, sondern mindestens ebenso stark aus den kleinbäuerlichen Gebieten. Da wurde ich stutzig. Ich habe das vertreten, ich habe das sachlich vertreten, ich konnte mich mit Helmut von Rauschenplat nicht einigen, obwohl der später selbst für den ISK von Oppenheimer weitgehend abgerückt ist und vertreten hat: Die Kommandohöhen müssen wir vergesellschaften. Als ich damals in der Schule war, da kam ich nicht unter einen Hut mit ihm und habe eines Tages in aller Freundschaft gekündigt und gesagt: ,Ich gehe nach Hause.' Das war ein schwieriger Entschluss, denn ich ging in die Arbeitslosigkeit. Der Grund war nun letztlich nicht so sehr das Führerprinzip, das gehörte da zwar auch nicht hin in die Walkemühle, das hat mich aber nicht geärgert. Es hat mich auch nicht das Zusammenleben oder sonstwas in der Schule geärgert. Die politische Theorie, dass man nur den Großgrundbesitz aufzusiedeln brauche, und man hätte damit den Kapitalismus kaputtgemacht. Ich hatte ein natürlich angeborenes Klassenbewusstsein, das hatte mir keiner beigebracht, mein Vater war schon Sozialist. Ich habe immer gesagt: Das kann nicht sein. August Bebel, Karl Liebknecht und Karl Marx, die hätten das doch wohl sonst auch gemerkt haben müssen. ... Einmal sind wir furchtbar hereingefallen. Wir hatten Nationalökonomie unter Helmut von Rauschenplat, Agrarwirtschaft, und wir sprachen vom abnehmenden Bodenertragszuwachs. Wir wollten das dann sehen, ob das wirklich so ist, und es war ja das Prinzip der Schule, dass man alles nachprüft. Rauschenplat hatte uns nämlich klargemacht, dass es ein Optimum an Kunstdüngung gibt; und wenn man dann noch z.B. die dreifache Menge auf den Acker schmeißt, trotzdem die Ernte nicht mehr soviel Mehrertrag bringt, dass sich der Kunstdünger bezahlt macht. Wir wollten das sehen, sind zu Onkel Schwer, dem Gärtner, gegangen und haben gesagt: ,Gib uns mal eine Ecke.' Das Stück Land war aber leicht hängig, das sollte unser Verderben werden. Wir haben das prima umgegraben, haben uns Stallmist aus dem nächsten Dorf besorgt und haben dann die Beete angelegt. Dann haben wir den Spinat gesät und unterschiedliche Dosen von Kunstdünger daraufgeschmissen. Doch anschließend kam ein wolkenbruch-artiger Regen; der hat unsere Beete alle verwischt, so dass nichts mehr zu erkennen war. Ein sehr starker Regen, ein ungewöhnlich starker Regen. Aber dann ging der Spinat auf. Also so etwas von Spinat hat es noch nie gegeben. Dann haben wir den ganzen Sommer über Spinat gegessen. Wir haben nachher ,der grüne Terror' gesagt. Wir mochten ihn nicht mehr, wir haben also den Spinat in jeder Form gekriegt. Hedwig Urbann, unsere sehr tüchtige Köchin und Wirtschafterin, hat sich sehr große Mühe gegeben, aber es half dann auch nichts mehr. Und weggeschmissen werden durfte der Spinat in der Walkemühle auf gar keinen Fall, der musste aufgegessen werden." (Helmut Schmalz) Die Entwicklung des Volkswirtschaftsunterrichts wurde so dargestellt: "Im ersten Jahr studierten die Schüler Berichte, Statistiken und wissenschaftliche Werke. Im zweiten ergänzten sie diese Arbeit durch Studienfahrten zu schlesischen Grundbesitzern und dänischen Genossenschaften. Im dritten folgte solchen Studienreisen eine Woche praktischer Arbeit auf Bauernhöfen. Und jetzt werden die Schüler im Sommer je vier Wochen in einem großen und in einem kleinen Betrieb arbeiten. Ähnlich lernte man auch auf anderen Gebieten hinzu. In manchen Jahren arbeiteten die Schüler während der Ferien in einem Industrie- oder Gewerbebetrieb oder in einem Bergwerk. So lernten sie zu den Lebensbedingungen des eigenen Berufes, soweit sie bereits einen gelernt hatten, die eines anderen hinzu." (41) Fahrten Auf den Unterricht bezogene Fahrten wurden häufig gemacht. Es gab z.B. Fahrten durch das Ruhrgebiet, um die Region der deutschen Schwerindustrie kennen zu lernen. (42) Eine Helferin erinnert sich daran: "Da brachten sie Getreideähren mit, die waren ganz schwarz von dem vielen Rauch und Dunst und Dreck, den es damals dort gegeben hat." (Hedwig Urbann) Die Erwachsenenabteilung der Walkemühle bekam für ihre Fahrten "zu wissenschaftlichen und belehrenden Zwecken" Fahrpreisermäßigung zugestanden. Einem Antrag für diese Ermäßigung ist zu entnehmen, dass 1925 zwei Fahrten mit der Eisenbahn unternommen worden sind: "Eine ... Fahrt nach Bayern (Bamberg, Würzburg) ... sowie eine Fahrt nach Cassel zur Besichtigung der Henschel'schen Betriebe." (43) Auf der Fahrt nach Bamberg und Würzburg in das Maintal sollte die Mentalität der katholischen Bevölkerung dort kennen gelernt werden. (44) Ein Schüler erzählt von dieser Fahrt: "Neben den Reisen in die Umgebung alle vierzehn Tage, gab es im Jahr ein oder zweimal eine ,Große Fahrt', so nannte man das damals. Einmal sind wir bei solch einer längeren Reise mit der Bahn bis Coburg gefahren und dann zu Fuß den Main herab über Lichtenfels bis Würzburg. Ich hatte meine Gitarre mit. Übernachtet haben wir in Scheunen oder in Gastwirtschaften im Saal, wo man uns ein bisschen Stroh hingeschüttet hatte. Durch die Sparsamkeit von demjenigen, der die Kasse führte, haben wir unseren Etat dabei so wenig belastet, dass zum Schluss der Fahrt in Fulda noch jeder zwei Stück Torte mit Schlagsahne essen konnte. Wir wanderten also am Main entlang, gingen dabei auch den heiligen Pfad von Stacholsheim hinauf; auf der anderen Seite war ein Trappistenkloster, das eine ausgezeichnete Fossiliensammlung besaß und einen sprechenden Pater - die Mönche dürfen da ja sonst nicht sprechen - der hat uns da alles sehr ordentlich erklärt. Dann sind wir auch in Bamberg gewesen, natürlich andächtig vor dem Reiter gestanden, und als wir schließlich nach Würzburg kamen, war da gerade ein Katholikentag für katholische Arbeiterpolitik. Den haben wir uns da mal genau angeguckt und haben dort den berühmten Jesuitenpater Hermann Muckermann sprechen hören, ein begnadeter Redner. Er oder auch der Kaplan Fasel waren damals groß in Mode und füllten Säle mit 2000 Menschen, sogar dann, wenn sie über Dinge sprachen, die sonst niemanden interessiert hätten. Und halten Sie sich fest, Muckermann sprach über Lenin. Er hat ihn als einen der großen Menschen in der Geschichte, vergleichbar mit Julius Cäsar, Napoleon oder Bismarck dargestellt. Muckermann stand links. Später stand in Würzburg einmal ein Katholik links von sich selbst, das war Vitus Heller, der hatte einen Kreis, der den Klassenkampf der Arbeiter als moralische Notwehr mit Thomas von Aquin auf einen Leisten brachte. Trotzdem war das Erlebnis für uns natürlich ziemlich erschütternd. Wir sahen, dass ausgewachsene Menschen und z.T. auch junge Menschen Marienbilder und so etwas herumtrugen und wirklich ernsthaft an die Sache glaubten. Wir waren ja alle aus der Kirche ausgetreten, das war selbstverständlich für uns." (Helmut Schmalz) Diese Fahrten standen aber nicht nur inhaltlich im Zusammenhang des Unterrichts, sondern auch in der Art ihrer Durchführung, denn die Exkursionen wurden hauptsächlich von Schülern selbst vorbereitet, was als Übung in Organisationsarbeit gedacht war, ihr Verantwortungsbewusstsein stärken sollte, und den Schülern Selbstvertrauen in die eigene Kraft gab. (Einzelne oder Gruppen von Schülern bekamen deshalb zum Beispiel die Errichtung der Turnhalle oder die interne Gesamtleitung der Schule als Aufgabe.) Ein Schüler schrieb dazu: "Die Erziehungsarbeit in der Walkemühle pflanzte ... in uns ein Selbstvertrauen, das im Rahmen des menschenmöglichen keine Hindernisse kennt. Mit der selbständigen Erledigung kleiner Aufgaben begann dieser Teil der Erziehungsarbeit, z.B. mit der Versorgung der Schule mit Schreibwaren; und mit großen Aufgaben endete sie, z.B. mit der selbständigen Leitung des gesamten Schulbetriebes. Jeder Schüler bekam Aufgaben gestellt, die er noch leisten konnte und die nach und nach im Verhältnis zu seiner gewonnenen Kraft gesteigert wurden." (45) Zwei solcher Aufgaben sind mir beschrieben worden. 1 . Eine Helferin: "Wenn irgendwas war, gab es Versammlungen. Ein Beispiel: Wir konnten natürlich in der Walkemühle nicht immer alle Türen auflassen, jeder hatte also einen Drücker. Es kam nun natürlich vor, dass jemand den Drücker verloren hatte oder ihn oben in seinem Zimmer liegengelassen hatte. Wenn so etwas dann zum Beispiel eingerissen war, hat man gesagt: ,Na schön, wir brauchen mal eine Versammlung.' Da standen dann also die verschiedenen Probleme auf dem Tapet, und man hat darüber gesprochen. Es wurde nicht von oben her gesagt: ,Das und das muss gemacht werden, das wird gemacht!', sondern wir haben immer darüber gesprochen. Bei uns wurde alles diskutiert, wir glaubten ja an die Vernunft des Menschen. Und wenn es dann einmal in der Diskussion zu keinem Resultat kam, weil noch zu viele unterschiedliche Meinungen da waren, - wenn einer mal eine andere Meinung hatte, na schön, dann hat er sich gefügt - aber wenn es noch mehrere waren, dann hat der Leiter der Diskussion gesagt: ,Also wir kommen heute Abend zu keinem Resultat, es sind noch zu viele verschiedener Meinung. Ich finde, wir warten noch einmal zwei Tage, bis wir wieder darüber sprechen, so kann es sich jeder noch einmal überlegen. So und so steht die Diskussion heute.' Wenn sich aber kein Ergebnis herausgestellt hatte, dann hat der, der die Verantwortung hatte, das entschieden. Wer das war, das kam ganz darauf an, um was es sich handelte. Wenn es schulische Sachen waren, hat Minna Specht oft entschieden, und wenn es keine schulischen Sachen waren, dann haben oft auch Schüler die Verantwortung gehabt, damit sie das lernen. Wie sollte man es lernen, wenn man es nicht ausprobiert. Die Entscheidungen der Schüler waren genauso verbindlich, als wenn Minna Specht entschieden hätte. Minna Specht hat auch nicht eingegriffen, wenn sie gesehen hat: Der macht einen Fehler. Das hat sich dann ja herausgestellt, und wenn die Schüler die Fehler nicht selber mal sehen, lernen sie mal nichts, das ist doch ganz klar." (Hedwig Urbann) Eine Schülerin: "Ich weiß, ich bin mit Hedwig mal über den Berg, um zur Holzauktion zu wandern. Da haben wir ganze Bäume gekauft, ersteigert. Das Steigern war damals in Forstgebieten allgemeine Praxis. Wir waren da allein verantwortlich, keiner hat uns gesagt: ,Die nimmst du, die nimmst du nicht', sondern wir mussten bei der Versteigerung entscheiden, welches das Günstigste war. Es durfte ja auch nicht zu teuer sein. Das Holz brauchten wir auf der Walkemühle zum Heizen." (Erna Blencke) Weitere Berichte aus der Schule der Erwachsenen Eine Helferin: "Das müssen Sie sich alles vor fünfzig Jahren vorstellen. Wir waren ja von Kindheit an anders erzogen: ,Du hast ruhig zu sein usw.', und in der Walkemühle sollten wir anfangen zu reden." (Hedwig Urbann) Eine Schülerin: "Ich habe gekämpft, ich habe sehr sehr gekämpft! Einmal war ein Abend angesetzt, wo folgendes diskutiert werden sollte: ,Welche Mittel sind in der Erziehung anzuwenden? Pädagogische Mittel, mit dem Risiko, dass auch mal etwas nicht geschieht, oder politische Mittel, mit der unbedingten Sicherheit, dass eine Sache durchgeführt wird?' Und ich kann mich noch erinnern, an dem Abend sagte Minna Specht all denen, die sonst in den Diskussionen nicht redeten: ,Heute Abend hat jeder zu dieser Frage Stellung zu nehmen.' Es war ja ein großes Problem, und ich habe immer überlegt: ,Was soll ich zu diesem Problem sagen ?' Mir fiel einfach nichts ein; und wenn man so unter Druck gesetzt wird, dann ist ja alles weg, dann fällt einem ja auch nichts ein. Minna hatte mir dann noch gesagt: ,Ich gebe dir einen guten Rat: Rede als erster, denn wenn drei oder vier vor dir sind, dann sagst du: ,Die haben ja schon alles gesagt, was soll ich also noch sagen,' rede als Erster!' Und als dann abends zu einem anderen Thema der Kurt Regeler den letzten Beitrag bringt, - wir hatten immer so einen kleinen Notizblock und einen Bleistift hängen - hinten sträubten sich mir die Haare wie bei einem Hund oder bei einer Katze das Fell - der Kurt Regeler endet, ich schreibe meinen Namen auf den Zettel und hebe ihn auf und spreche als erster. Im ersten Moment dachte ich, jetzt schließt sich mir der Hals, und ich blicke so auf diese große Versammlung, sah Berta Rodes Augen und an diesen Augen hielt ich mich fest. Dann habe ich auseinandergesetzt - gar nicht überzeugt, dass das richtig war, denn ich musste ja nun mal was sagen - dann vertrat ich also den Standpunkt, dass in einer Schule, in der erzogen wird, man nicht das politische Mittel anwenden sollte, sondern das pädagogische. Denn wenn wir mit dem Korsett des politischen Mittels groß werden, dann sind wir nachher in schwierigen Situationen nicht in der Lage, ohne Korsett zu entscheiden. Ich setzte mich hin - meine Knie zitterten - und hatte das Gefühl, den größten Blödsinn der Welt geredet zu haben. Und ich habe mir da geschworen: ,,Ich werde nie wieder was sagen, nie wieder, und wenn mich Minna Specht hundert Mal rausschmeißt!' Lisbeth Katholi und ich gingen in unsere Zimmer zurück. Jeder begibt sich in sein Bett, und wir lassen die Tür offen, um uns zu unterhalten: ,Was meinst du Lisbeth? Ich habe das Gefühl, ich habe den größten Blödsinn von der Welt geredet.' Und dann sagte Lisbeth: ,Ja, das Gefühl hatte ich auch.' Na, da war ich natürlich am Boden zerstört, da hatte ich meine Bestätigung. Am nächsten Morgen gehe ich über den Hof. Minna kommt aus dem Lehrgebäude und sagt: ,Großartig gemacht, großartig dein Diskussionsbeitrag.' Ich war wütend und sage: ,Das sage ich dir, das war das erste und das letzte Mal, dass ich was gesagt habe, denn ich habe das Gefühl, du willst mir jetzt nur ein Kompliment machen, damit ich beim nächsten Mal wieder was sage. Du willst mich nur ermutigen. Nichts werde ich mehr sagen!' Ich hatte ja das Gefühl, ich hatte den größten Blödsinn geredet. Und da wurde Minna ganz ernst, ganz ernst, und sagte: ,Jetzt will ich dir mal was sagen ...' Und da hat sie mir auseinandergesetzt, wie wichtig das ist, dass in einer Schule, in der erzogen wird, man nicht immer Korsetts finden darf, also politische Stützen, anstelle der freien Entscheidung, etwas zu tun, auch wenn es einem nicht gefällt. Und nachher habe ich darüber nachgedacht, und ich vertrete heute noch den gleichen Standpunkt. Und so wurde man dort gebildet: Zuerst einmal Minderwertigkeitskomplex, man traut sich nichts zu, dann wird das bestätigt von einem anderen, und dann wird man so allmählich aufgerichtet, und das Vertrauen bildet sich aus. Das waren schon harte Sachen, das waren schon sehr entscheidende Sachen. Die Minna war da immer großartig. Wenn man wusste, das geht hier um dein Fundament, dann konnte man immer damit rechnen, dass sie das Richtige tat." (Emmi Gleinig) Eine Auseinandersetzung über pädagogische und politische Mittel in der Erziehung der Kinder. Ein erwachsener Schüler erzählt: "Der Tono, zehn Jahre alt, war dickköpfig und schwer einzugliedern. Julie, die Lehrerin der Kinder, hatte ihre Last damit. Aber das ging antiautoritär. Ich habe dagegen verstoßen und will das nun erzählen: Im Sommer tafelten wir also unter zwei riesengroßen Kastanienbäumen, draußen im Freien. Es war die Zeit, wo die Kastanienbäume eben ihre Kastanien herunterfallen lassen. Tono sammelte diese fleißig in seiner kleinen Schürze. Tono wollte jetzt nicht zum Essen kommen. Tono war durch Julie nicht zu bewegen, zum Essen zu kommen. Sie hat ihn flehentlich gebeten, es war nichts zu machen. Tono wurde böse, trampelte mit den Füßen auf und begann damit, die Fensterscheiben unseres Speiseraumes einzuschmeißen, woraufhin ich eingeschritten bin. Ich habe ihm erstens die Kastanien weggenommen, ihn außerdem übers Knie gelegt und ihm drei Kräftige mit der flachen Hand auf den Hintern gehauen und : ,Nu ab!' Oh, es gab lange Sitzungen darüber. Ich habe gesagt: ,Ich verstehe nichts von Pädagogik, ich bin kein Pädagoge, das was ich gemacht habe, wollt ihr das bitte zur Kenntnis nehmen, das war Politik. Ich habe unsere Walkemühle vor materiellem Schaden bewahrt, und dazu musste ich mit Gewalt eingreifen.' Das hätte ich auch anders machen können. Ich sage: ,Ich halte diese Art des politischen Eingriffs für wirkungsvoller. Wenn ich ihn nur weggehalten hätte, wäre er ja sofort zurückgekehrt und hätte sein Spielchen weitergetrieben. Ich musste ihn abschrecken, das konnte ich nur mit Gewalt. Das war Politik, das war keine Erziehung. Ich will euch in eure Erziehung gar nicht reinreden. Nehmt das zur Kenntnis und macht das auch aktenkundig, dass man in gewissen Fällen als Pädagoge auch politische Maßnahmen vornehmen muss, nämlich dann, wenn derjenige beginnt, Eigentum zu zerstören.' Die Erzieher waren tieftraurig. Ich hätte also das Werk von vielen Monaten zerstört, weil ich so autoritär gehandelt hätte." (Helmut Schmalz) Eine Schülerin berichtet: "Im philosophischen Unterricht "ging es um die Freiheit des menschlichen Willens. Wie haben wir uns in die Fragen hineingestürzt mit Beispielen für und gegen! Am Ende des Vormittags waren wir der Meinung: ,Ja, es gibt einen freien Willen. Alle fünf Teilnehmer sind davon fest überzeugt.' Aber schon am Nachmittag hörten wir es knistern im Gebälk. (Nachmittags arbeitete man gewöhnlich einzeln oder zu zweit in Form eines Protokolls die Vormittagsüberlegungen noch einmal durch; vielleicht gelang es dabei auch, einen fruchtbaren Ansatz für die Fortführung der Arbeit am nächsten Tag vorzubereiten.) Und dann kam am nächsten Morgen einer der Teilnehmer mit neuen Argumenten und warf alles bisherige über den Haufen. Es war in diesem Fall eine nachdenkliche Frau. Ihre gut begründeten Gedankengänge weckten bei dem einen oder andern Mitschüler ein Echo. Er unterstützte sie, und der Kampf begann von neuem mit einer Hingabe und Intensität, dass wir selbst am Schluss der Unterrichtsstunden nicht davon loskamen und in jeder freien Minute weiter an unserem Problem bohrten. Ich habe es noch im Ohr, wenn plötzlich Hans, der Jurist aus München, unserer Edith, einer ehemaligen Verkäuferin aus einer englischen Kleinstadt, zurief: ,Du, Edith, jetzt sehe ich, wo der Fehler in Deinem Ansatz liegt. Pass auf. Du denkst ..., aber das stimmt nicht, es ist so....' Lange haben wir gerade um diese Frage gerungen. Eines Abends, als Edith wieder einmal mit uns allen einig war, musste sie sich feierlich verpflichten, nun fest zu bleiben und uns nicht durch neue Argumente vom Fortgang unserer Arbeit abzuhalten. Wir waren fest davon überzeugt, bei der Weiterarbeit einen Weg zu finden, der auch ihre, vielleicht tief im Innern weiter bohrenden Zweifel beheben würde." (46) Ein weiteres Beispiel der gleichen Schülerin: "Drei Mitglieder unserer Gruppe nahmen sich eine eigene Arbeit vor: die Ausarbeitung eines vollständigen Leitfadens für eine Analyse der politischen Lage. Sie waren ganz erfüllt davon und trugen uns die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vor. Ich glaube, sie waren brauchbar. Aber selbst wenn sie sich nicht so vollkommen erwiesen, wie die drei sie beurteilten - was mich so beeindruckte, war die Tatsache, dass hier einige ihrem Wesen und ihrem Beruf nach doch sehr verschiedenartige Menschen (ein Lehrer, ein Jurist und ein Ingenieur) zu einer ganz ungemein intensiven gemeinsamen Arbeit gekommen waren. Da alle drei recht selbständige Menschen waren, hätte es nahegelegen, dass jeder sich berufen gefühlt hätte, sein eigenes System auszuarbeiten und vorzulegen. Ich glaube, dass hier ganz besonders die Schaffung einer geistigen Gemeinschaft geglückt war. Die Fähigkeit zu solcher gemeinsamen Arbeit, sich in sie einzuordnen, ist wohl das wichtigste Ergebnis der sokratische Arbeit. Daneben steht der Gewinn eines starken Selbstvertrauens in die eigene Vernunft: Man merkt, dass man bei hinreichender Vertiefung und Ehrlichkeit im Denken, sei es allein, sei es gemeinsam, in seinem Innern einen ganz erstaunlichen Vorrat an Erkenntnissen entdecken kann." (48) Eine Schülerin schreibt: "Nelson erschien nicht oft in der ,Walkemühle'. Doch wenn er da war, wirkte er als Lehrer und Erzieher. So erinnere ich mich eines zehn Tage währenden Kurses über die Schrift von Friedrich Engels: ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft'. Die Aufdeckung der metaphysischen Voraussetzungen der jede Metaphysik leugnenden Engelsschen Theorie und die Klarstellung logischer Sprünge gehörte zum besonders Fesselnden dieser Arbeit. Für Nelson war es zweifellos eine große Geduldsprobe, mit uns zu arbeiten, um so mehr, als gerade in diesem Kursus der Versuch gemacht wurde, die Schüler auch als Lehrer wirken zu lassen. Geduld während solcher Übungen war überhaupt eine der bemerkenswerten Eigenschaften Nelsons. Er konnte zehn bis fünfzehn Minuten und noch länger die Teilnehmer in Schweigen verharren lassen, ohne von sich aus den Weg zu zeigen, der aus der Sackgasse herausführte. Er wartete auf die Initiative der Teilnehmer, und erst wenn aus diesem Kreis der Versuch zur Weiterführung der Unterhaltung unternommen wurde, leitete er sie weiter. Eine der schönsten sokratischen Übungen erlebte ich bei Nelson über das Thema des ,Schönen Seins' oder des ,Ideals der schönen Seele' bei Schiller. An mehreren Nachmittagen wurde in diesem Kursus die Entwicklung der Ethik von Kant zu Schiller und damit die begriffliche Unterscheidung zwischen Pflicht und Ideal erörtert. Es war für mich ein besonders starker Eindruck in dieser Arbeit, dass Nelson, dieser kühle, scharfe Denker, uns den Wert eines lebendigen, unbeirrbaren Gefühls für die menschliche Persönlichkeit vor unserem Bewusstsein erstehen ließ. Damit berühre ich einen Zug der Persönlichkeit Nelsons, der sich nicht ohne weiteres zeigte, sondern erst nach längeren Umgang entdeckt werden konnte: sein starkes Gefühl für das Schöne. Er liebte die Kunst ... übte sie selber aus, (und) ... war ein besonders begabter Zeichner." (48)
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