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Von Wilhelm Meyer.

WALTER

Meine Bäume waren Einzelgänger. Die Trauerweide, gegenüber der Alexanderbrücke, ein Stück die Sonnenstraße hoch Richtung Stadt eine Kastanie und im Eck eine Linde. Einmal, erinnere ich mich, hat sie getragen. Kleine pelzige Eckern. Zum Groß und Stark werden. Es war, als die Trauerweide noch trauern durfte. Wie soll das auch erlernt werden, Bäume zu beschneiden, die nicht wie Obstbäume, ihre Gestalt erst im Schnitt erhalten.

Und dann war noch die lange Reihe der riesigen Platanen, deren Stämme aussehen als wären sie als Puzzle zusammengesetzt. Eine Juckpulverallee. Die Bahnlinie entlang, endlos bis zum Südbad, so daß schon damals die Sonnenstraße ihrem Namen an keiner Stelle gerecht wurde. Mein Freund Walter Kalkzieher verfolgte auf ihr vorzugsweise zwielichtige Personen. Die Platanen dienten der Deckung. Walter las nicht nur Kinderbücher, er spielte sie auch nach. Ich lehnte es ab, ihn Kalle zu nennen. Da jedoch sonst niemand mit ihm spielen wollte, nahm er dennoch mit mir Vorlieb. Eine Zeit lang wenigstens.

Die Alexanderbrücke ist die Emscher unter den Brücken. Wie die Emscher geopfert wurde, um die Ruhr zu erhalten, mußte die Alexanderbrücke zusehen wie ihre glänzende Schwester, die Möllerbrücke von Beginn an Objekt restaurierender Verschönerung war, spätestens aber seit die große Filiale der Sparkasse in den Neubau an der Ecke eingezogen war. Nichts also stimmte in diesem Viertel. Die Sonnenstraße lag in Dauerschatten. Die Alexanderbrücke hatte jede Schlacht verloren und ausgerechnet ein Möller sollte glänzen müssen.

Wer im Frankfurter Hauptbahnhof einmal die Unterführung auf mittlerer Höhe der Gleise benutzen mußte, weiß etwa, wie die Alexanderbrücke aussieht. Ihre wildhochgewachsenen kahlen Wände verdankte sie ihrer Einsamkeit. Es hatte keinen Verkehr auf ihr. So durfte sie nicht einladen zum Sprung wie ein tiefer Barren, den selbst ein Kafka überwunden hätte. An ihrem Aufstieg zur Stadt hin, zwischen dem Trauerhaus der Städtischen Kliniken und der Bahnlinie in Richtung Unna, war eine mit Wachholder bestandene Brache, in gut Handtuchbreite, die von den Dortmunder Bürgern gern als wilde Müllkippe benutzt wurde. Das war gegen Anfang der Sechziger Jahre. Davor gab es nichts wirklich Kippenswertes und bald danach waren Parkplätze eingeteert. Zu dieser Zeit moderten dort vorzüglich Matratzen, die vom Regen vollgesogen waren. Das hielt Walter nicht davon ab, sie für die Schlafstätte eines zwielichtigen Gesindels zu halten, dem man auf die Finger blicken mußte. Ihre Gefährlichkeit bewiesen diese Gestalten vorrangig dadurch, daß wir sie nie auch nur in der Nähe ihres Schlafplatzes erblickten. Diese derart raffinierten Gesellen, die es schafften, wie völlig normale Bewohner der Gegend auszuschauen, wurden von Walter und mir verfolgt. Meine Einwände waren schnell entkräftet und wir standen hinter einer der Platanen, um die ahnungslosen und unschuldigen Bürger unseres Viertels vor Mord, Raub und Totschlag zu schützen. Zwar mußten wir nie eingreifen, aber wer hätte sagen können, was nicht allein unsere aufmerksame Anwesenheit an Schlimmen verhinderte. Walter hatte schon damals den Gedanken, daß unsere Präsens allein hinreichte, um Schlimmstes zu verhindern. Die Frage, wieso wir uns verstecken müßten, ließ er unbeantwortet.

Kalkziehers wohnten in einem der Neubaublöcke, Bahn- oder Posthäuser, zwischen den vielen hier doch noch stehen gebliebenen Altbauten, die damals noch gar nicht so alt waren. Dort hatten sie eine winzige Wohnung. Noch winziger als die Wohnungen der Genossenschaften. Die waren zwar alt und von außen hätte man vermuten können, sie hätten große, hohe Räume. Dem war nicht so. Solche Wohnungen hatten nur die ersten Blöcke zur Bahnlinie hin. Schon ein Karree weiter war es aus mit der Herrlichkeit. 60 Quadratmeter waren damals eine riesige Wohnung, in der sich nicht selten drei Generationen auf die Füße traten. Wir waren soeben aus einer Eckhauswohnung der Liebigstraße mit 45 Quadratmetern in eine luxuriöse Dreizimmerwohnung im gleichen Block gewechselt. Der gesamte Umzug war zu Fuß durch den Hof erfolgt und an einem Nachmittag recht zügig erledigt gewesen. Noch waren wir nicht so weit, die wilden Müllkippen zu bedienen. Aber all das war nichts gegen Walters Wohnung. Als hätte man ein Studentenheimzimmer dreimal unterteilt. Und Walter bewohnte noch das größte Zimmer, in das neben dem Bett ein Schreibtisch paßte. Ein Junge mit zwölf und schon einen Schreibtisch. Mein ganzes Bedauern gehörte ihm. Das wird er mit Schularbeiten abzuarbeiten haben. Und dem war auch so. Nie holte er mich ab. Immer bat er mich, ihn rauszuboxen. Abschlagen konnten ihm seine Eltern nichts, aber er konnte auch nichts von ihnen erbitten, das sie ihm hätten abschlagen können. Seine einzige Möglichkeit war, es jemand anderen tun zu lassen, und der war ich. Ich hätte es verstanden, wenn meine Eltern gegen diesen Umgang, der mich an den Rand des kriminellen Milieus gebracht hatte, Einwände gehabt hätten. Es waren aber seine Eltern, die nicht wollten, daß er sich mit mir herumtrieb. Einem seiner Kinderbücher entsprungen, spannenlanger Hansl, nudeldicke Dern taten sie alles, daß er auf lange Sicht herauskäme aus dieser Wohnung. Aufs Kurze hieß dies jedoch, ihn drin am Schreibtisch einsperren zu müssen. Zu den Schulstunden kam er glänzend vorbereitet. Man hatte den Eindruck, selbst auf Klassenfahrten war er mit Reiseführern plus geschichtlichem Wissen präpariert worden. Seine Eltern mußten über einen Hintergrund an Bildung verfügt haben, der es ihnen ermöglichte, zu wissen, was die Schule von ihrem Sohn fordern könnte. Allein der Schreibtisch legt das nahe.

Zwei Ereignisse beendeten unsere gemeinsame Tätigkeit. Sie fielen zusammen, und so vermag ich nicht zu sagen, welches das entscheidende gewesen sein mag. Bei einem war ich nicht, bei dem anderen nur kurz anwesend.

Alle Grundstücke, hauptsächlich, wenn sie zwischen den Häusern lagen, Trümmergrundstücke, hatten in Zukunft zwei Möglichkeiten, Haus oder Parkplatz. So auch der Platz gegenüber der Alexanderbrücke. Der aber blieb am längsten und hatte zwei Besonderheiten. Der Keller des Hauses hatte unter der Straße gelegen, bzw. führte die Kellertreppe zunächst unter den Bürgersteig der Sonnenstraße, um dann wahrscheinlich in einem Rückwärtsknick wieder unter das ehemalige Haus zu gelangen. Das aber war alles zugeschüttet. Ich hatte nicht den Mut, dem weiter nachzugehen. Die Phantasie jedoch wurde angeheizt durch die zweite Besonderheit. Im hinteren Teil war ein Brunnen. Eine große Schale, ein rundes Mosaik aus hellblauen Steinchen, türkis gerandet, mit einem Metallknopf in der Mitte, der ehedem zum Wasserspucken gedient haben mußte, dieser Brunnen samt der Tatsache, daß wir uns im ersten Blockbereich zur Bahnlinie, den großbürgerlichen Häusern befanden, sprach für unendlichen Reichtum. Nie aber fanden wir etwas. Und so dürfte es auch denen gegangen sein, die sich dieses Gelände ausgesucht hatten, um auf andere Weise zu Reichtum zu kommen. Es gab in unserem Viertel so etwas wie Gangs von Halbwüchsigen, die jüngere Kinder terrorisierten. Sie hatten sich Walters bemächtigt, eine Summe gefordert, die er nicht zahlen konnte. Gegen die Forderung von je 10 Pfennig wollten sie Walter zwingen vor zahlendem Publikum sein Geschlecht zu entblößen. Ich habe mir immer nicht vorstellen können, daß auch nur eins von den Kindern freiwillig einen Groschen für diesen Unsinn hergegeben hätte, hörte jedoch, daß einige noch nach Hause gelaufen seien, zumal der Eintritt auch in Form von Briefmarken zu entrichten gewesen sei. Tatsächlich hatte sich keines der Kinder, die ich kannte, das Spektakel entgehen lassen. Walter war es gelungen, die Jungs davon abzubringen, im Kellereingang erzwungene Einzelvorstellungen zu bieten. Der Schauplatz wurde zurückverlegt in die Brunnenschale, und es gab nur eine Vorstellung, die sich aber dann vor versammeltem Publikum zwischen meiner Trauerweide und der einen stehen gebliebenen Innenwand des Hauses abspielte.

An der anderen Veranstaltung war ich beteiligt. Förster, unser Deutschlehrer hatte den Vorschlag gemacht, mit dem Erwerb eines Theaterabonnements eine gemeinsame Kulturinitiative der Klasse zu begründen. Mir schien das geeignet, das Engagement zu zeigen, von dem in der Schule behauptet wurde, daß es mir mangele. Ich hatte jedoch übersehen, welche der Kinder sich in dem Kreis zusammengeschlossen hatten. Außer Walter und mir waren es die Kinder der sozialen Creme der Stadt, von der unsere Schule reichlich hatte. Den Reigen der Veranstaltungen eröffnete die Verkaufte Braut. Zur Vorbereitung war ein Treffen bei Förster vereinbart, von dem ich eher zufällig erfahren hatte. Dort nun erschien ich in stolzer Naivität. Nie zuvor hatte ich Ablehnung so deutlich erfahren, ohne daß irgendwer etwas sagen mußte. So, ging es mir durch den Kopf, muß es Walter im Brunnen ergangen sein, so allein den Kindern gegenüber. Er war hier der einzige, an dem ich mich hätte festhalten können. Er aber ließ mich sich nicht erreichen. Nach kaum fünf Minuten, einer Ewigkeit, stotterte ich: Na dann geh ich mal wieder. Erntete Nicken, hörte hinter der geschlossenen Tür, das Aufbrausen von Stimmen, befreit, wie mir schien, und dann die ersten Takte von einer Schallplatte. So wenig, wie ich mir hatte vorstellen können, daß die Kinder für Walters Entblößung gezahlt hatten, war mir nun klar, wieso ich dort nichts zu suchen hatte. Ohne Walter, der von diesem Zeitpunkt an, nie wieder den Verbrechern der Alexanderbrücke nachspürte, wäre mir mein Außenseitertum in diesem Kreis völlig klar gewesen. Was aber unterschied Walter von mir. Ich wußte damals noch nicht, daß immer einer gebraucht wird. Erst der zweite ist dann von Übel.

Das Abonnement führte ich noch Jahre weiter, ohne daß es in der Schule bekannt wurde. Es war zu einer hervorragenden Einkommensquelle geworden. Bei ausverkauften Vorstellungen erzielten die Karten leicht das Doppelte ihres Preises, während sie sonst immerhin noch kostendeckend loszuschlagen waren. Selbst die Hälfte wäre reiner Gewinn gewesen. Von der Disko, in der wir wochenends warteten, daß die Musik zum Blues überging, war es ein Katzensprung. Längst war ich sitzen geblieben ohne daß sich meine Eltern über die Fortsetzung des Abos gewundert hätten. Walter sah ich manchmal in seinem Konfirmationsanzug, der noch Jahre später zu groß erschien. Verloren stakten die Hände aus dem Silbergrau. Sie waren mir mit ihren dicken Knöcheln immer klauenartig erschienen. Und es war eine ungeheure Kraft darin. Keinen unserer Gangster hätte ich beneidet, wenn er in seinen Griff geraten wäre. Aber wenn es darauf ankam, schienen sie ihm nichtsss zu nützen.

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