» Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, sind Ihre Kräfte nicht die meine? Ich renne zu und bin ein rechter Mann, als hätt ich vierundzwanzig Beine«:
Goethe, Faust 1, 1824-28.

 

Von Wilhelm Meyer.

ZWEI BEIDE

1. Kapitel

Friedrich Karl Strange war nicht gefallen. Er wurde noch gebraucht. Göttliches Veto, ihn ganz aus dem Leben zu nehmen. Im August des Jahres 44 stolperte er und verlor nach und nach seine Beine. Sie also kamen nicht zurück aus dem fernen Rußland, und Friedrich Karl Strange war auf seiner großen Reise nach Osten dem Boden ein Stück näher gekommen. Auf einem kleinen Wägelchen, einem Vorfahren der heutigen Skateboards, fuhr er, sich mit den Händen abstoßend, zurück gen Westen. Von zwei Selbstmordversuchen, einem für jedes Bein, war er zuvor gerettet worden. Die zweite Rettung war geglückte Wiedergeburt. Aus dem Bauch des Todes kroch er, und lebte fortan, um zwei Kinder zu zeugen, zu ernähren und wachsen zu sehen, ein Kind für jedes Bein. Er war ein tapferer kleiner Vater, und eine Frau hatte er auch, die ihm die Kinder gebar, denn es gab wenig Männer.

Am Kriege lernen die Medizin und das orthopädische Handwerk. Wunderwerke aus Holz, Leder und Stahl machten, daß Friedrich Karl Strange einmal groß war, wenn er zur Arbeit fuhr, und einmal klein, wenn er zu Hause war. Nichts, aber auch gar nichts wächst nach am unvollkommenen Menschen, und so blieb alles, wie es war, im steten Wechsel. Tagsüber schlackerten die weiten festen Hosen, und nur am mechanischen Gang und am Knarren des Leders erkennt der Eingeweihte die Ursache der Größe. Doch es braucht Kraft. Die ist am Abend verbraucht. Es wird abgeschnallt. Hilf Vater beim Abschnallen, hieß es, und dann taten die Kinder einen Blick in die Prothesen, wo unten zur Federung ein einfacher Tennisball in jeder lag, der dort blieb. Nicht einmal auf die Idee, ihn dort herauszunehmen, kamen die Kinder, sie starrten ihn an und fanden es im Grunde Verschwendung.

 

2. Kapitel

Friedrich Karl Strange war nicht auf den Kopf gefallen. Er bewarb sich bei seiner alten Firma im Ruhrgebiet, blieb aber noch mit seiner Mutter Lind seiner Frau auf dem Lande. Er war ein offener, ehrlicher Kerl, wußte sich und anderen zu helfen, bald sollte ein Kind kommen. Nicht ganz gewünscht. Es wurde geheiratet. Nicht die erste Stelle bekam er und nicht die beste. Klein, wie er war, mußte er klein anfangen.

Ewa Maria war ein halbes Wunschkind. Wunschkinder sind Wunschkinder im doppelten Sinne. Ewa Maria konnte wünschen, durfte aber an ihre Wünsche nicht glauben, durfte sie nicht aussprechen. Ganze Wunschkinder wünschen laut und heftig; die Ungewünschten können es gar nicht.

Die Mutter, streng und trocken, oh, sie hätte einen anderen der allzu wenigen Männer bekommen, hübsch wie sie war; sie hatte die kleine Ewa Maria aus dem Bauche gepreßt, gerade zur Erntezeit, nach einer langen Fahrt mit dem Fahrrad, obwohl sie geheiratet hatte. Dreimal mußte die Hebamme zuschlagen, dann schrie sie, die kleine Ewa Maria, die nur ganz leise wünschen durfte, und das wußte.

Lange übte sie das Wünschen mit Wünschen, von denen sie glaubte, daß andere Kinder sie hätten.

So wie Ewa Maria für jedes Bein einen Namen erhalten hatte, so auch der wunschlose Sohn, der gegen den Wunsch, wenn davon so leicht zu sprechen wäre, der Mutter die Erinnerung an die Toten der männlichen Seite trug: Heinrich Anton. Oh, er hätte Sven, Jens oder Thomas heißen sollen, aber verlorene Beine tragen keine modischen Namen, wenn sie nicht im Autoverkehr, sondern im Krieg geblieben sind. Dort sind sie aber, dort im Krieg: und der steckt in ihnen und den Kindern. Ein Verkehrskrüppel mag seinen Sohn Jens nennen oder Sven, ein Betriebsunfälliger Thomas oder gar Hajo, wenn der Hund nicht schon so heißt, aber Kriegsversehrten-Kinder heißen Heinrich, Anton, Friedrich oder Wilhelm.

Und laufen konnte der Kleine, Ewa Maria, die mußte immer getragen werden, Heinrich Anton lief für zwei.

 

3. Kapitel

Keine Phasenphotos seiner Bewegungen haben je die moderne Kunst in ein neues Zeitalter geschickt. Nicht Friedrich Karl Strange noch einer seiner vielen Schmerzgenossen hat es zu einer Popularität gebracht, wie es die Vorgänger des Ersten Weltkriegs vermocht hatten. Kein Grosz und kein Dix. Die Kunst geht nicht zurück. Der Gliederbau feierte Triumphe. Prothesen, des Kaisers neue Beine. Die Stümpfe verschwanden aus den neu erbauten Fußgängerzonen der Citys. jedem Kaff seine City ohne Stümpfe. Keine Orgelspielerlizenzen mehr, das Elend läuft auf Tennisbällen und zeigt unauffällig in der Bahn den Ausweis.

Die Familie ist komplett. Friedrich Karl Stranges Mutter findet eine kleine Wohnung im Ruhrgebiet, dort zieht die Familie ein. Klein, aber nicht mein, denn Frau Augusta Julia Strange ist nicht zu übersehen. Für sie ein eigenes Kapitel.

 

4. Kapitel

Ihr Mann, Anton Eberhard, hatte es sich nicht nehmen lassen, nach der Zeugung dreier Söhne, als ob er gewußt hätte, daß man drei braucht, um einen zu behalten, bevor er recht das Kommende in Augenschein nehmen konnte, seinen ewigen Frieden zu suchen, aus keinem anderen Grunde als dem, daß er einen zeitlichen nicht gefunden hatte. Es war Sturm im Hafen, am Kai lag Augusta Julia. Gläubig, wie er war, machte er sich nicht selbst sein Ende, sondern bat Gott darum, und dieser hatte ein Einsehen.

Nun war sie allein, die Witwe Augusta Julia Strange. Eine kleine Rente nur hinterließ Anton Eberhard, so ging sie putzen und schaffen, um ihre Söhne rechtzeitig für den Krieg groß zu haben. Einen aber schaffte sie beiseite, der ging als Franziskaner nach Tanganjika, um in der Hitze für seine Mutter zu beten.

Hier zeigt sich uns das erste Mal ihr weit-planendes Naturell. Was Deutschland nie so sehr geschafft hatte, sie machte es möglich, eine kleine Kolonie, aus der zur richtigen Zeit das Richtige floß, eine eigene Carefirma für Kaffee, Kakao: das Überflüssige bringt das Notwendige, Lind schon im Leben konnte man sehen, wie nützlich dieser Sohn einst werden würde. Er war ein Tennisball im Reiche Gottes. In Tanganjika hatte sie ihr Ländl.

Ja, sie plante weit, wenn nötig in Ewigkeiten, aber hatte auch einen Blick fürs Heutige, weil sie es nicht unnötig vermischte. Es ist halt Unsinn, über einem langen Gebet das Essen kalt werden zu lassen, und ganz ohne verbrennt man sich das Maul. Das war ihre Theodizee. Nein, an ihr kommt keiner vorbei , schon hat sie ihr eigenes Kapitel. Wir wollen es nicht aufblähen, sie wird sich nicht beiseite legen lassen, egal, wieviel Raum wir ihr in ihrem Kapitel verschaffen, also halten wir's kurz.

 

5. Kapitel

Und schon holt sie uns ein. Es ist ja ihre Wohnung, die ich nun beschreiben muß. Sogar ein Bad hat sie. Nur ist sie fürchterlich klein. Ein Schlafzimmer für die Eltern und Kinder, eine Küche dito, und unsere Augusta hat ihr eigenes Zimmer ihrem Umfang angemessen. Sonntags und zu Jubiläen wird ihr Raum zum Wohnzimmer, dort steht der Weihnachtsbaum, dort ist kein Alltag.

Die Kinder hören hier die halbe Kinderstunde im Radio, darin geht's zur Andacht. Jeden Sonntag eine halbe Kinderstunde, jeden Sonntag die Hoffnung, es werde die Zeit vergessen, und jeden Sonntag die Enttäuschung. Oh, wieviel Halbes in dieser Familie, man möchte den Blick abwenden, wenn man sieht, wie sich unsere vier in der Küche schichten. Boden, Sofa, Stuhl und Herd, das sind die Schichten. Nur im Schlaf sehen wir sie auf einer Ebene im Zimmer verteilt.

Vielleicht nimmt Augusta so viel Raum ein, weil sie für so viele steht, sie ersetzt ihren Mann, Anton Eberhard, und für uns auch die Eltern Anna Klaras, Friedrich Karl Stranges Frau. Ich werde sie mir Arme nennen, so dünn war sie, wie ihre Eltern.

 

6. Kapitel

Wehe über die Kinder, die sich aus Mitleid gegen einen Vater nicht wehren können, der alles, aber auch alles für sie getan hat.

Ein moderner beinloser Vater befiehlt nicht. Er fragt. Er fragt vieltausendmal, denn das Wörtchen »mal« wird von modernen beinlosen Vätern zwangsläufig häufiger benutzt als von einfachen uns bekannten modernen Vätern. Die Malfrage ist der Diminutiv des Befehls mit der geringeren Aussicht auf Verweigerung. Alles und jedes ist mal zuträglich. Reicht dies nicht, finden wir uns einer weiteren Verkleinerungsform des Befehls gegenüber, der Malebenfrage.

Friedrich Karl Strange ist ein Meister der kleinen Form. Der Elan, alles, was möglich ist, selbst zu tun, ist vergangen, das Danken zuwider, und schließlich ist er nicht nur Krüppel, sondern auch Vater und Ehemann. Da sind die kleinen Dinge selbstverständlich. So sind die Forderungen nie groß, aber häufig. Größere Laufarbeiten werden in zwei, drei kleine portioniert, und immer ist der kleinste Mißmut Frevel. Ja, auch darauf wird in der Familie Strange geachtet, daß alles freudig getan wird. Übertretungen werden mit dem Satz: »Nicht einmal das usw.«, geahndet, wobei die Betonung auf »einmal« liegt.

Wie schwer fiel es den kleinen Stranges, sich nicht über den Schnee zu freuen, weil Vater das Gehen dann so schwerfiel. Hätte sich ein Kind allzu offen gefreut, er wäre zur Strafe ausgerutscht.

Wie gesagt, Augusta ging die ewige Lauferei nichts an, im Gegenteil, sie als alleinige Herrscherin des Hauses konnte freilich nicht hintanstehen, auch für sie gab es einiges zu holen. Allerdings verfügte sie noch über zwei Beine. Der Zugriff erfolgte über den beinlosen Vater, beinlos und dankbar. Dankbar, nannte sich Friedrich Karl. Dankbarkeit war die unbedingte Erfüllung sohnlicher Pflichten gegenüber den Eltern. Wir wissen noch, Augusta hatte Anton Eberhard schon vor seinem Tode so in sich aufgesogen, daß es uns auch nicht wundert, daß Anton Eberhard so ohne Schwierigkeiten zu den Seligen genommen wurde. Es war Arbeitslosigkeit. Als hafenloser Postbote war er jederzeit ersetzbar, als Anton Eberhard war er nun doppelt. Gott hatte nichts mehr an ihm zu verlieren.

Bedingungslos dankbar war er, der Sohn, sammelte all ihre Wünsche im Schacht der Prothesen, wo unten der Tennisball lag, und schüttete sie über Frau und Kindern aus. Hier brauchte er nicht zu streuen, zu portionieren. Nicht für sich bat er, er befahl im Auftrage der Sohnespflicht, die zu erfüllen ihm besonders angelegen war.

In Krisenzeiten, Zeiten, wo bedingungslose Dankbarkeit einen Sprung erhält, war er dankbar für die Ausbildung, die Lehre, die sie ihm ermöglicht hatte, putzend, machend, waschend für Naturalien. Im Hintergrunde stand: Meine Kinder machen Abitur. Das kittet den Sprung.

 

7. Kapitel

Ein Vater hat Pflichten, aber auch Rechte und Sorgen. Familie Strange hatte keine Feinde außer einem, dem ärgsten Feind. So jedenfalls sahen es die Kinder, bis sie feststellten, daß, wo ein ärgster Feind haust, an argen eine Menge sein muß. Stranges waren eine christliche Familie, und so wünschte Anne solche Schmerzen, wie sie sie hatte, ihrem ärgsten Feinde nicht. Auch Augusta pflegte ihrem ärgsten Feind solche Schmerzen nicht zu wünschen.

Friedrich Karl verzog sein Gesicht, und die Kinder wußten, daß er gerade seinem ärgsten Feind solche Schmerzen nicht wünschte. Durch einen einfachen logischen Schluß fanden die Kinder später heraus, daß dies eine Lüge war. Nach längerer ergebnisloser Suche nach diesem Feind, die Kinder waren durchaus nicht so nachsichtig, sondern hatten allerhand, was sie ihm wünschen wollten, fanden sie heraus, daß sowohl die Mutter als auch die Großmutter sich gegenseitig ihre Schmerzen wünschten, wo sollten sie sonst herkommen. Ob der Vater nun beiden seine Schmerzen wünschte oder sie tatsächlich bei sich behielt, war nicht exakt herauszufinden, da er sich nie dezidiert darüber äußerte. Den Kindern hätte es im Grunde auch schnuppe sein können.

Ein Vater hat Sorgen, oder besser, ein Ehegemahl hat sie: Mit einer schwerkranken Frau vergessen sich leicht die Pflichten der Mutter gegenüber, nicht aber gegenüber der schwerkranken Mutter. Also alles wieder im Lot. Nur für die Kinder nicht. Es bleibt in einem großen Herzen Platz für allerhand. So auch für die eheliche Sorge. Die Kinder haben nun auf ihrem Rücken drei kräftige Reiter. Die »Mal-ebens« des Vaters, die Pflichtprothese und die Siehstdunichtwiesiesichquältprothese. Ein Füllhorn von kleinen Wegen, kein einer zuviel.

 

8. Kapitel

Ja, Sie haben eben richtig gehört, die Kinder machen Abitur. Aber sind die denn schon so groß? Darauf kann unsere Erzählung leider keine Rücksicht nehmen. Mal sind sie groß, mal klein. ja, wir können selbst für Augusta, die doch die beständigste Figur unserer Erzählung ist, nicht mit Sicherheit vorhersagen, ob wir sie nicht einmal auf den Knien vor uns sehen. Der Film mit seiner Zeitlupe könnte vielleicht eine klarere Sicht in die Verhältnisse bringen. Nebenbei: Die Verhältnisse zwingen jeden Betrachter, mal hoch, mal herunter zu schauen, was leider, und es ist immer so gedeutet worden, wie ein beständiges Nicken aussieht. Ich habe mich nie gegen die Deutung dieses Nikkens als Zustimmung wehren können. Andererseits: Hätte man mich sonst so lange geduldet, mir einen so weiten Einblick gestattet, hätte ich je von den Tennisbällen erfahren, wenn ich nicht immer hätte nicken müssen, und wenn nicht mein Nicken von einem traurigen Gesicht begleitet gewesen wäre, traurig, weil immer mißverstanden.

 

9. Kapitel

Anne, Anne, wie hattest du dir das nur vorgestellt? Hast du geglaubt, ein paar Jahre vielleicht mußt du seine Mutter ertragen, dann hast du deine eigene Wohnung? Hatte dich nicht deine Cousine gewarnt: Lieber ohne Vater als mit dieser Schwiegermutter. jetzt schnappst du nach Luft. Wie eng alles ist. Nicht einmal am Herd hast du deine Ruhe. Nie, aber auch nie machst du etwas richtig. Du hättest einen anderen gefunden, mit Kind, ja, auch mit Kind. Du wolltest es nicht anders. Was hast du geglaubt, daß ein Mann ohne Beine sich gegen eine Mutter von drei Zentnern durchsetzt, für dich? Er ist kein schlechter Mann, aber ohne Beine. Gott bewahre uns vor allem, was noch ein Glück ist; und habt ihr euch nicht allzu oft gerade damit getröstet. War sein Leben nicht immer noch ein Glück, ein glückloses Davonkriechen? Und nun jammert ihr um die Wette. Er stumm, ja, er kann das. Richten sich nicht schon deine Kinder gegen dich, die du nicht mit Leid gepanzert bist. Deine Kinder, wo du glaubtest, noch Glück gehabt zu haben, daß sie einen Vater hatten. Und es gab so wenig Männer, so wenige, die noch gesund und kräftig waren, sich gegen ihre Mütter zu wehren, wo es so nötig war. Und deine Cousine hatte gut reden. Ihrer war heimgekehrt. Auch wenn sie recht hatte mit dem Unvorstellbaren, sie durfte es nicht aussprechen. Nun wünschst du der Alten die Pest an den Hals, und sie tut so, als ob sie sie hätte, und alle wissen, woher. Was für eine Rolle spielt es da, daß sie sie nicht hat. Nicht einen Schnupfen hat das robuste Weib.

 

10. Kapitel

 

Eine gutsitzende Prothese ist vorteilhafter als ein ungünstiger Stumpf ... Wird das Glied im Bereich eines Gelenks abgetragen, so spricht man von Exartikulation.

Der große Brockhaus,
A-Bco, 1952

Besser, gut gefahren, als schlecht gelaufen. Worin soll eigentlich das Besondere dieser Stranges liegen? Außerdem ist es echt fies, wirklich nur vom Dreck zu berichten. Ich möchte wetten, neunzig Prozent der Zeit ist es denen wohl und gemütlich, und kein Aas denkt auch nur an Prothesen, Laufereien und Pest an den Hals.

Nun, wo durch fremden Einwurf alles zurechtgerückt ist, kann ich unbedenklich fortfahren.

 

11. Kapitel

Liebe Biester sind's. Neunzig Prozent der Zeit tun sie, als wär nichts, und die restlichen zehn, als wär nichts gewesen.

 

12. Kapitel

Heinrich Anton hat etwas angestellt. Er stellt immer etwas an. Er ist ein junge. Da sieht man alles und ist erleichtert. Ewa Maria auch. Das ist fatal. Da gibt es kein durch die Finger Sehen. Da zieht sich Anne zurück. Laß das nur den Vater machen. Aber was sollte er machen. Zur Rache den Übeltätern und zum Lobe den Frommen. Da steht er, der kleine strafende Vater. Er muß etwas tun. Die Kinder warten. Warte nur, bis Vater kommt. Friedrich Karl mußte strafen. Er schlug nicht fest. Nicht viel und nicht fest, wenn die Kinder kamen. Es reichte, wenn sie schrien. So war die unausgesprochene Abmachung, denn freiwillig mußten sie kommen. Mutter und Frau warteten auf den Schrei. Was, wenn der Übermut eins der Kinder ergriff. Du kriegst mich nicht.« Sie mußten ihre Beine dahin tragen. Eine sanfte Strafe war der Lohn. Denn er war ein liebender Vater. Doch er schlug sie mit ihren eigenen Beinen. Du kriegst mich nicht. Doch er kriegte sie, aber um welchen Preis. Welch ein Segen, daß die Wohnung so klein war. Welch ein Segen, daß die Kinder nie entschlossen waren. Der Übermut war flau, aber der Vater war nicht mehr Vater, das Abkommen war gebrochen, die Strafe fürchterlich. Friedrich Karl war geschlagen. Es brauchte nicht viel, um ihn stürzen zu lassen, doch es gab nichts zu gewinnen. Ein Zögern war keine Flucht. Wozu hatten sie gewartet. Sie hätten fliehen können, den ganzen Tag, wartet nur, bis Vater kommt, ein »Pah« und die Sachen gepackt, ab in den Wald, zumindest im Sommer, es wäre möglich gewesen, und dann, nach einer Woche vielleicht, dankbare Eltern? Aber wer denkt so weit. Kleine Aufmüpfigkeiten, ein, zwei feste Schläge und sie trollten sich.

 

13. Kapitel

Ein wahrlich berechtigter Einwurf sagt: Hör mal, vergiß die Beine, du reitest das falsche Pferd. Es war nirgendwo anders. Überall die Väter, überall der gebrochene Widerstand. Nein, es ist nicht wegen Friedrich Karl, der könnte ebensogut mit Beinen. Ich brauche sie, ich brauche etwas, das fehlt und schmerzt. Ich kann es nicht anders fassen. Es ist eine Chance. Nicht für Friedrich Karl, der wehrt sich noch immer. Ich habe ihm gesagt, in meinem Roman nehme ich dir die Beine ab, 1944, du hast also Zeit genug, dich daran zu gewöhnen. Ich brauche das so.

 

14. Kapitel

Augusta ist durchgedreht. Es war zu schwer für sie, zu sehen, daß alles so weitergeht. Oh, wenn man wüßte, was in ihrem Kopf steckt. Zucker hat sie so nebenbei. Ab ins Krankenhaus, mal sehen, was noch zu retten ist. Selbst sie schrumpft. Nur noch ein Strich gegen früher. Es dauert lang mit ihr. Ein halbes Jahr sehen wir sie kaum.

 

15. Kapitel

Und was machen unsere vier Daheimgebliebenen? Sie flüchten. Sie packen Sack und Pack zusammen und die Gelegenheit beim Wickel und ziehen um.

Gebt's zu, ihr habt geglaubt, sie schafft's nicht. Dreimal ans Sterbebett geholt, aber wer einmal von der Schüppe gesprungen ist, und nun gar dreimal. Schon ist der neue Fernseher da. Geld hätte schon lange gereicht, es war kein Platz da. Und Urlaub wird gemacht. Erst der Vater, dann die Mutter mit den Kindern. Hoppla. Freut euch nicht zu früh. Es wird euer letzter Urlaub bleiben, vorläufig. Augusta steht schon in den Startlöchern. Das Gitterbett mit einem kräftigen Ruck von der Wand geschoben. Noch irrt sie auf den Fluren des Krankenhauses. Bald werdet ihr wieder sehnsüchtig hinter den Nachbarn herschauen, wie sie erst nach Italien, dann nach Spanien und später sogar nach Teneriffa ziehen, ja fliegen. Das freilich seht ihr nicht von euren Fenstern, aber ihr glaubt es. Kaum war der Fernseher da, kam Kennedy nach Berlin, als ob er's gewußt hätte. Oh, es passierte viel. Dann wurde er umgebracht. Der Bruder kam aus Tanganjika, sprach ein Gebet, brachte einen Holzsplitter vom heiligen Kreuze, Augusta war wieder auf dem Dampfer, fand sich ein, murrte, maulte und gab das Laufen dran. Zwar hatte sie ihre alte Fülle wieder erreicht, aber die Beine machten nicht mehr mit. Wahrlich eine heikle Situation. Noch wehte Morgenluft, noch war die erwachte Selbständigkeit zu stark, um es auf einen Kampf ankommen zu lassen. In solchen Fällen hilft nur die Hilflosigkeit. Die alte Wohnung wurde aufgegeben, Augusta zog nach. Immerhin, man hatte ein Zimmer mehr. Dort stand nun der Fernseher, außerhalb Augustas Machtbereich. Nein, sie konnte nichts mehr verbieten.

 

16. Kapitel

Erleichterungen auf der ganzen Linie, es ist ein später Frontabschnitt. Als durch ein Gespräch mit höchsten Stellen der katholischen Kirche endlich Einigung erzielt wurde, ein Abstimmen der Andacht auf die Anfangszeiten der Fernsehprogramme nicht länger abzuweisen, hatten unsere beiden nicht mehr viel davon. Sie waren noch nicht in dem Alter, wo man wieder Kinderstunde sieht. Nein, die Kirche hat keinen Riecher fürs Machbare, wie unsere Augusta: einfach plattlegen und jammern. Zu lange hatte sie die Andacht gegen die Kinderstunde verteidigt. Sie hätte wissen müssen, daß, wenn das eine bröckelt, das andere nachzieht. Nichts hat so sehr der Zigarettenindustrie in die Hände gearbeitet wie dieses bornierte Stellunghalten der Kirche. Schon sehen wir Ewa Maria und Heinrich Anton auch die sonntägliche Messe schwänzen. Ganze Kinderscharen drängen sich rauchend in den Ecken. Was heißt Kinder, erwachsen sind sie beinah. Aber es ist eine elende Zeit, die man Gott stiehlt, weil man sie den Eltern nicht gönnt.

Anfangs schaut man noch nach, um die häusliche Kontrollfrage beantworten zu können, wer die Messe denn (das denn ist hier wichtig) gehalten habe. Und das alles fing mit der Andacht an, mit dem Unmut über die abgebrochene Kinderstunde. Bald schaut man schon nicht mehr nach, man läßt es drauf ankommen, gibt irgendeine Antwort, auf gut Glück; kindliches russisches Roulette, und es mehrt sich das Geplärre in den Familien, wenn die Kinder nach Haus gekommen sind.

Nicht so bei Stranges. Wie, sie haben doch eben von den Zigaretten geredet. Nein, das ist nicht der Grund. Auch unsere kleinen Stranges rauchten, um die Sache komplett zu machen, aber es bildete sich eine Fraktion in der Strangeschen Familie. Ein Komplott. Anne wußte natürlich Bescheid. Als nun die provokative Phase des kindlichen Roulettes eintrat, wurden die Kinder von ihr an der Tür abgefangen, mit der Nachricht versehen, wer die Messe gehalten habe, und mit dem Hinweis, sie habe die Kinder vorn, auch das noch, in der Kirche gesehen. Oh, ihr unschuldigen Kinder. Erst nahmt ihr die Nachricht freudig auf, als ob die Kugel nicht losgegangen sei. Aber hätte sie euch wenigstens hinten plaziert. Nur Ruhe. Sie macht's schon. Welch ein Gespür diese Anne hat. Vernichtend nur ist, was anfänglich unsicher tastend begonnen worden, suchte sich nun seinen eigenen Weg. Die Erleichterung, daß die Kugel diesmal nicht losgegangen sei, machte dem Ärger Platz, daß sie so auch nie losgehen könne. Das aber war das Ziel, sie sollte losgehen. Die Chance war ja die der Eltern. Du kriegst mich nicht. Es sollte klar ausgesprochen werden. Auch wenn du mich kriegst, hast du mich nicht. Und nun sollten sie dankbar sein. Wer schoß denn. ja, was du heimlich tust. Der Sack braucht nur noch verschnürt zu werden. Seid ihr auch alle brav gewesen. Es wird so nicht klappen, Mutter Nikolaus. Hätte sie gewußt, wie vergeblich ihr Komplott war, offen hätte sie hinter den Kindern stehen müssen. Auch nicht mit Eisessengehen war da was zu machen.

Aus. So geht's nicht weiter. Friedrich Karl Strange ist nicht auf den Kopf gefallen. Er schnürt den Sack selbst zu.

 

17. Kapitel

Heinrich Anton ist schon sehr groß. Kein Schuß ist losgegangen über Jahre. Friedrich Karl macht Frühschoppen. Er geht nach Haus. Auf dem Weg trifft er seinen Sohn. »Ich denke, du bist in der Kirche.'« »Bin ich auch.« Nichts. Das war's. Zu spät.

 

18. Kapitel

Raus aus dem Schlafzimmer der Eltern. Herrgott, ich tu manchmal so, als ob das nur für die Kinder eine Befreiung ist. Ich gestehe, ich weiß es nicht. Nehmen wir an, daß auch ein wenig Eigennutz dazu führte. Unterm Dach ist ein Zimmer frei. Die Kinder ziehen hoch. Vorerst nur zum Schlafen. Bald zum Schularbeiten Machen und anderes mehr. Auf ein neues. Noch kein Roulette. Friedrich Karl spürt das, oh, er weiß viel. Er schlägt zu. Riskant. Da war eine Frau oben. Aber nicht doch, Vater, das war anders. Welch ein Sieg. Friedrich Karl streicht ihn ein. Von jetzt an können tausend Männer und Frauen unters Dach. Er wird nichts mehr einstecken müssen Einen Rückzug, wenn auch einen siegreichen, wie im letzten Kapitel geschildert, wird es nicht mehr geben. In dieser Sache hat er Anna gleich mit in den Sack geschnürt. Der Kuppeleiparagraph ist abgeschafft. Sollen sie, das bißchen Sackhüpfen bringt Friedrich Karl nicht um.

 

19. Kapitel

Beide Kinder haben ausgesagt, daß die bestimmende Figur der Strangeschen Familie die Großmutter Augusta gewesen sei. Wir haben es mit der unappetitlichen Erscheinung der Restgroßfamille zu tun. Nicht aus Selbstverständlichkeit blieb die Familie zusammen. Die Kinder wären am liebsten geflohen, die Eltern wären am liebsten geflohen. Augusta mußte alles aufbieten, um sie zusammen, bei sich zu behalten, und später, als sie nichts mehr bei sich behalten konnte, um bei ihnen bleiben zu können. Nach ihrem Krankenhausaufenthalt, dem dreifachen Schüppehüpfen, als ob zweimal nicht genügt hätte, hatte man sie schon im Sanatorium.

Welch ein Ausweg für Friedrich Karl, sie war nicht da, konnte sich nicht wehren, direkt vom Krankenhaus zu den barmherzigen Schwestern. Welchen Kampf hatte sie zu Überstehen, einen Kampf um Anwesenheit. Eine völlig neue Situation für sie, die im Lebenskampf erfahrene, deren Anwesenheit allein genügte, um Dinge zu entscheiden.

Dies alles liegt im Dunkel. Floh unsere Augusta, endete die Barmherzigkeit der Schwestern, wurde Friedrich Karl überredet, beschworen, sie zurückzunehmen, erreichte sie ihre Rückkehr auf einem der vielen Besuche, die ihr Sohn mit der ganzen Familie unternahm? Wir wissen es nicht, es scheint, als ob sich Konturen in ihrer Abwesenheit verwischen, es bleibt der Schatten, der über dieser Zeit liegt. Wir wissen freilich vom Urlaub, den die Mutter mit den Kindern nahm, vom Urlaub, den der Vater allein nahm, vom Besuch des Ländle, und haben ein Foto gesehen, das Anne in ungewöhnlicher Ausgelassenheit zeigt. Aber, was wird schon aus Leuten, die plötzlich gezwungen sind, glücklich zu sein.

 

20. Kapitel

Wenn mal die Großmutter stirbt. Sie war zu groß, als daß man sich auch nur hätte vorstellen können, was danach käme. Und so kam sie zurück. Bald ging der Ruf durchs Haus: »Ich bin gestürzt.« Zehn Jahre wird sich Augusta von nun an regelmäßig mit aller nötigen Vorsicht auf den 111 ihrer Abwesenheit angeschafften Teppichboden setzen und den Ruf austönen: »Ich bin gestürzt. «Nur der Vollständigkeit halber erwähnen wir einen Vorstoß Annes, unserer kleinen, dürren Person, die Zu zäh war, um das alles nicht durchzuhalten. Sie tat nichts weiter, als Augusta liegen zu lassen, denn ihr war die körperlich ebenso erniedrigende Aufgabe zugefallen, unsere Augusta hochzuwuchten. Wie Jesus stand sie da und sprach: Du kannst laufen.« Die Wut brachte Augusta hoch. Ein Wortgefecht folgte, wobei gesagt werden muß, daß die infamsten Unterstellungen bei Stranges der Wahrheit am nächsten kamen. Später beendeten hilflose Beleidigungen, die immerhin noch treffend ausdrückten, was beide füreinander fühlten, den Zwischenfall.

Friedrich Karl nahm sich, abends von der Arbeit nach Hause gekommen, zuerst seiner vollends erschöpften Mutter an. Es ist ein Phänomen, daß bei Stranges immer mit dem gedroht wurde, was sich der Bedrohte am sehnlichsten wünschte, aber nie ertrug. Augusta drohte mit ihrem Auszug. Freilich hatten ihr ihre Beine den Dienst wieder versagt, sonst wäre sie schon über alle Berge. Wir möchten wetten, daß sie zu den Barmherzigen nicht zurück gekonnt hätte. Als ob es tatsächlich eine Drohung sei, trug Karl Friedrich wir müssen ihn mitunter umkrempeln, denn im Grunde war er eine friedliche Seele die Drohung in die Küche: »Sie will ausziehen.« »Dann laß sie doch«, war das letzte, was Anne, ihres Mißerfolgs schon sicher, hervorbrachte. Daraufhin verstummte das Gespräch in der Familie. Zwei Wochen hatte jeder Zeit, sich zu Überlegen, was er falsch gemacht hatte. Die einzelnen Dienste, Bringen und Holen, das Kochen und Schleppen waren so eingefleischt, daß es nicht einmal mehr des »Dochmaleben« bedurfte. Formal war die kleinste Form erreicht, die sprachlose Selbstverständlichkeit, die allerdings nur unter der Prämisse des Leidens, der Qual, akzeptiert wurde. Und wenn Friedrich Karl in seiner Qual verstummte, gab ihm ein Gott zwei Engel, die brachten, was er brauchte. Auch Augusta wurde auf gleiche Weise versorgt, die Fronten bröckelten, schon sprach der eine mit dem anderen, das Bordleben kam wieder in Gang. Man traf sich still vor dem Fernseher. Die Familie war wieder vereinigt. Auf ein neues.

 

21. Kapitel

Aus irgendeinem Grunde verselbständigten sich diese Qualklausuren und wurden neben Augustas Stürzen gewöhnlicher Bestandteil des Familienlebens. Augusta übernahm hierbei die Initiative. Sie drohte zwar nicht mehr mit dem Auszug, meist mit irgendwelchen Belanglosigkeiten, wie: »Von euch nehm ich nichts mehr«, die ebenso willkommen waren. Sie zog sich zurück, wurde von den Kindern versorgt, der Sohn wurde zum Aufweichen der Fronten herumgeschickt, und Vater Friedrich Karl hielt allnacharbeitlich und allvorzubettgehlich seine Besuche ab. Im Kleinen wiederholt sich, was wir im Großen schon kennen. Symbolisch feiern Stranges Augustas Verschwinden und Wiederauferstehung vor dem Fernseher. Es bleibt zu erwähnen, daß lediglich zwei Gestalten Augustas Klausuren mit Sicherheit zu verkürzen in der Lage waren, Uwe Seeler und Alwin Schockemöhle, mitunter hatte Freddy Quinn die gleiche Wirkung.

 

22. Kapitel

Wir halten unsere Stranges nicht für außergewöhnlich, aber für mehr als gewöhnlich, für ausgeprägt. Vieles, was hier berichtet wird, kennen unsere Leser aus eigener Erfahrung. Daraus ergibt sich das Problem, daß nur das Exzeptionelle an Stranges wahrscheinlich nicht mehr als eine Seite füllen würde, eine bis ins äußerste detaillierte Beschreibung wiederum den Rahmen des Lesbaren sprengen würde, da zu viel Bekanntes miteinfließen müßte. So hatte Augusta in ihren späten Jahren die Eigenart, der Familie durch den Aufschrei: »Die Scheide brennt« kundzutun, daß ihr Zucker lebensbedrohliche Ausmaße annahm. Ähnliches ist ja durch Heinrich Böll bekanntgemacht worden, an dessen: »Blut im Urin« ich mich bei der Erzählung über Augustas Zuckermeßverfahren sofort erinnert fühlte. Dieser Aufschrei erfolgte immer dann, wenn die vom Arzt nachgemessenen Werte nicht in befriedigender Höhe waren. Welche Ökonomie der Mittel.

Sie sehen, sobald ich mich mit einem Detail beschäftige, das ich eigentlich aufgrund seiner Bekanntheit (wer hatte nicht eine pißpottschwenkende Großmutter) nicht erwähnen wollte, so finde ich immer etwas, das mich zwingt, es doch zu tun. Ich werde also schleunigst das Kapitel, in dem ich berichten wollte, was ich nicht berichten werde, abschließen. Ganz zu schweigen davon, daß auch ich von einer solchen pißpöttischen Neigung mich nicht ganz frei fühle. Das nebenbei.

 

23. Kapitel

Es ist die Skurrilität der Stranges, die mich ihnen nahegebracht hat. Denke ich an das gewöhnliche Leid der zweiten Kriegsgeneration, der Nachkriegsgeneration, als ob es nicht ins dritte und vierte Glied ginge, so deprimiert es mich zu stark. Das ewig öde Aufbauen, Kinderwillenbrechen, Autobahnfreifahren, die touristischen Überfälle mit Condor auf Spanien und Italien, das höhere Schulwesen, das kapellintonierte »Laß das nur den Vater machen« bei Erhardschen Wahlauftritten, all das gibt es bei ihnen und gibt es doch nicht. Wie spät erst wird die Einbauküche bei Stranges von einer schon wieder abgelaufenen neuen Zeit künden. Nie liegen sie richtig. Die Beine fehlen auch beim Liegen. Und wollen wir nicht immer sehen, was fehlt. Fragen wir nicht tausendmal: Fehlt ihnen was?

 

24. Kapitel

Augusta hatte ihr Leben lang geschuftet. Wenn sie mit siebzig auf ihre Beine verzichtete, kann ihr das keiner übelnehmen. Sie tat aber immer noch genug, half beim Essenkochen, überwachte die Zutaten und las ein wenig. Sie hatte geputzt, geschrubbt, gemacht, drei Kinder großgezogen, zwei Weltkriege überstanden, und es fällt uns schwer, sie in ein Heim zu stecken. Nein, auch wenn sie verheerend auf unsere mittleren und kleinen Stranges gewirkt hat, wollen wir nicht in den Fehler verfallen, zu meinen, wenn sie erst weg sei, sei alles gut. Um genau zu sein, wir wissen es besser. Auch Stranges wissen es nun besser.

Und Friedrich Karl. Er hat auch malocht bis zum Umfallen. Sie haben alle vor Arbeit nie gewußt, was ihnen passiert. Die Dinge waren, wie sie waren.

Ewa Maria schien am ehesten die Nachfolge antreten zu wollen. Sie lernte, wenn es eben ging, auch wenn sie wußte, es hieß, sie täte sich schwer. Unterm Lateinbuch, wie bei allen Kindern, die Lektüre, die sie mochte. Nein, es gab keine Ruhe, es war immer einiges zu holen, zu spülen zu tun, aber weniger, wenn man lernte.

 

25. Kapitel

Der Rest Vernunft ist die Pflicht.

 

26. Kapitel

Nicht nur Ewa Maria, die ganze Familie Strange las. Hierbei leitete sie nicht das Interesse am 'Was, einzig das Wie war wichtig, sie schlangen. Die Leihbibliothek im Zigarrenladen umfaßte immerhin 3/400 Romane, die zudem in 14tägigem Turnus teilweise ausgewechselt wurden. Dennoch kam es vor, daß beim besten Willen kein noch nicht gelesenes Buch aufzutreiben war. Binnen Wochenfrist mußten die entliehenen Bücher gelesen sein. Hier, aber auch nur hier, sehen wir Anne an der Front. Sie verteilte sortierte und markierte, und schickte meist Heinrich Anton. Denn neben den Büchern bestand Nachfrage nach Bier und Zigaretten. Das war, bevor der Konsum Rabatt auf die Zigaretten gab. Diese Mitteilung verdankten die Stranges einem Nachhilfelehrer Heinrich Antons, der zwischen den Jahren die Früchte eines einjährigen Konsumrauchens resümierte und auf ein bis zwei Stangen kam. jedenfalls, zusammen mit dem Bier waren die Bücher zu schwer, und dazu brauchte es einen Mann.

Der Konsum übernahm im übrigen auch bald die Bierversorgung des Strangeschen Haushaltes; er hatte sich derart geschickt in die letzte verbliebene Baulücke des Viertels gesetzt. Wo vorher Krieg war, wie konnte Friedrich Karl woanders einkaufen lassen. Direkt vor Stranges Nase quollen nun Bier Lind Lebensmittel aus dem letzten Loch des Krieges, Lind darauf gab's Rabatt. Der Rabatt war, und das ist die revolutionäre Tat des aufstrebenden Konsums, von den Rabattierenden selbst zwischen Weihnachten und Neujahr in Tütchen zu packen. Ein jeder Bon, der eben gleichzeitig zur Abrechnung der Prozente diente, wurde numeriert und auf der Rückseite des Tütchens mit seinem Preis verzeichnet. Nicht nur Stranges empfanden die Erleichterung, die darin bestand, daß nicht mehr Rabattmarken zu kleben waren, wo man der Einfachheit halber bei kleineren Mengen doch immer noch die Zunge nahm. Nein, es war zudem eine kleine Denkaufgabe, die Jedes Tütchen stellte, denn es wurden immer nur runde Zahlen, Fünfziger und Hunderter, abgerechnet, man mußte diesen also so nah wie möglich kommen. Und, man hätte schummeln können. Das ging bei den Markenheftchen nicht. Mit einem Blick ließ sich dort übersehen, ob sie vollständig beklebt waren oder nicht. Nie haben die Stranges erfahren, was passiert, wenn man beim Schummeln erwischt wird. Sie schummelten nicht.

Zuletzt jedenfalls bleiben nur noch die Bücher. War Annes Domäne zu Anfang gedeckt von väterlichem Bedarf, so erwarb sie sich infolge des Neubaus in der Bombenlücke vollständige Autonomie. Die Kinder holten auf ihr Geheiß allein die Bücher, folgten ihren Markierungen, das kleine S auf dem inneren Rückendeckel - mit Bleistift von ihr hineinverschämt - zeigte an: Dieses Buch wurde bereits von mindestens drei, den weiblichen, Stranges gelesen.

Einfach und klar war die Ordnung, unfehlbar, was den weiblichen Lesehunger anging, mit einigen Schludrigkeiten auf der männlichen Seite. Hier erweiterte sie ihre Domäne, indem sie Friedrich Karls entliehene Bücher ein ums andere Mal auszuzeichnen vergaß. Mit einer verschmitzten Boshaftigkeit, die sie sich einzig in dieser ihrer Domäne, ihrem Ländle der Ärzte, Colts und Barone, erlaubte, pflegte sie Friedrich Karl darauf hinzuweisen, daß er, wenn er genaue Übersicht behalten wollte, seine Bücher selbst abzuzeichnen hätte, und fügte mit wahlweise zu verstehendem und nicht zu verstehendem Gemurmel hinzu: »Hände hast du ja wohl noch.« Die Wahl Friedrich Karls fiel aufs Nichtverstehen.

Wie wir sehen, findet Anne einen Zipfel von Überlegenheit, sie weiß ihn zu greifen.

Doch es war ein kurzer Vorgeschmack, dem wir im übrigen die Anschaffung des Fernsehers zum Teil verdanken. Friedrich Karl war eben alles andere als auf den Kopf gefallen. Der Fernseher bedeutete das Ende des Leihverkehrs, auch die bittere Ahnung für Friedrich Karl, daß er sein S noch in ganz andere Deckel zu setzen haben würde.

 

27. Kapitel

Was gab es nicht alles zu kleben. Im Großen wie im Kleinen. Otto Mess, Kaisers Kaffee, die Bäckermarken usw., ein buntes Feld der Markenbücher, blau, gelb, grün, ja manchmal hatten in den Büchern selbst die verschiedenen Werte andere Farben, und doch sollten diese grauen Tütchen der Frühlingsbote der Zukunft werden. Bei uns Kindern konnte man so nebenher die Rechenkünste kontrollieren, pädagogisch wertvolles Spielzeug, und dabei doch so sehr aus dem Leben.

Heinrich Antons Nachhilfelehrer, immerhin ein gebildeter Mann, rauchte in der Zeit nach Weihnachten für zwei. Nun also verschwanden, aufs peinlichste ehrlich notiert, die Zettelchen in den grauen Tütchen. Keiner hatte je erfahren, daß irgendein Tütchen der Nachbarn beanstandet worden wäre und welche Strafe ihn ereilt hatte. Entweder wurden die Tütchen nie kontrolliert, oder aber die ganze Nachbarschaft war ebenso ehrlich wie Stranges, und die Rechnungen der Kinder wurden zu Einübungszwecken ja noch einmal kontrolliert. Man kann sich jedoch vorstellen, wie die Phantasie der kleinen Stranges bei all den großen Zahlen sich darin erging, zuerst einmal den Überschuß zu errechnen, der durch den Zwang, jedes Tütchen auf eine gerade Summe zu bringen, entstand. Waren nun zwanzig oder dreißig Tütchen gefüllt, kam man ja immerhin auf eine erkleckliche Summe, die aus den kleinen, überfransenden Beträgen jeder einzelnen Tüte entstanden. Hier also sahen Ewa Maria und Heinrich Anton eine entschiedene Ungerechtigkeit. Brachte es eine Tüte auf 50 Mark, 63, so hätte es eine andere eben auf 49 Mark, 37 bringen sollen. Warum aber ging dies nicht? Weil es eben nicht geht, war die Antwort. Die Tatsache, daß der Konsum solcherart schamlos betrog, brachte erst die Möglichkeit, daß dies Ja auch von denen ausgenützt werden konnte, die ja immerhin die ganze Arbeit damit hatten. Der erste Gedanke Ewa Marias, und wie mir scheint, ein zweifellos hellsichtiger, war, daß zur Kontrolle die Tüten der Familien untereinander getauscht würden, daß sozusagen immer der ärgste Feind die Tüten der Stranges zu kontrollieren hätte. Nicht nur, weil die beiden schon damals der Angelegenheit mit dem ärgsten Feind auf die Schliche gekommen waren, sondern auch aufgrund der Überlegung, daß dann ja auch bei Stranges Tüten zum Kontrollieren abgeliefert werden müßten, kamen sie zu dem Schluß, daß keiner die Tüten kontrolliere. Man tat nur so. Der Gedanke, es könne Stichproben geben, kam unseren Kleinen noch nicht. Faßbar wäre die gegenseitige Kontrolle gewesen. Der Schluß, daß niemand die Tüten kontrolliere, wurde untermauert durch die Erkenntnis, daß dies schon eben deswegen nicht nötig sei, weil einzig die Kinder auf die Idee kämen, falsche Zahlen hintendrauf zu schreiben, die aber zwecks mathematischen Fortschritts eben von ihren Eltern kontrolliert wurden. Wir gehen nicht so weit zu behaupten, daß es den Kindern klar geworden wäre, daß im Umkehrverfahren die Schule mit all ihrer Kontrolle nun für eben diesen Konsum gearbeitet hätte, auf daß unsere Kinder, und zwar alle, ihre Tüten ehrlich füllen; doch es dämmerte ihnen ein Zusammenhang.

 

28. Kapitel

Beinlos, aber nicht weinlos, sagte Friedrich Karl, als er vorn Hausarzt erfahren hatte, ihm war die Scheide als untrügliches Meßinstrument für Diabetes versagt geblieben, daß er über nicht unbeträchtliche Blutzuckerwerte verfüge, die im Urin setzte er stillschweigend voraus. Dies nur zur Vollständigkeit, Friedrich Karl zieht auf diesem Felde mit Augusta gleich. In den Werten wird er ihr fürderhin überlegen sein, was zu einer inflationären Korrektur der ärztlichen Meßergebnisse durch Augustas mittlerweile bekannten Ausspruch führt.

Ich lasse Friedrich Karl an dieser Stelle gleichziehen, weil es mir zum einen um den Kalauer zu tun war, der Frühling äußert sich bei den Menschen unterschiedlich, zum anderen führt uns die Diabetes endlich aus dem grauen Allgemeinen zurück in Stranges Domänen. Zum weiteren anderen findet Arme ein neues Feld subversiver Betätigung und spannt die Kinder mit ein.

 

29. Kapitel

Garantiert schon das deutsche Reinheitsgebot, über das auch Arme, ohne es Zu kennen, sich nie hinweggesetzt hätte, ein ungepanschtes Bier, so drängt sich Armes neues Feld subversiver Tätigkeit förmlich auf. Es wird gepanscht und nicht zu knapp.

Zweifellos haben wir es mit einer Art Notwehr zu tun. Diabetes hin oder her, ein mit Bier besoffener Friedrich Karl neigte zur Schlappheit, kamen noch diverse Schnäpse hinzu, neigte er sich nur noch.

Anders wirkten die zumeist mit einem Adler versehenen Zweiliterflaschen Südtiroler Provenienz, der Südseite des Gebirges abgerungen. Dieses Gesöff vernebelte das Hirn, hatte jedoch mit dem Körper ein Einsehen. Es war im übrigen egal, welcher Wein bei Friedrich Karl zur Anwendung kam, Anne probierte so einiges, wenn auch immer aus den untersten Preisklassen, man sparte verzweifelt, wenn man es nur den Kindern deutlichmachen konnte, alles für Euch. Ich komme ab. Ich meine, wir sehen hier einen untrüglichen Beweis für Armes Liebe zu Friedrich Karl. Es gab deren übrigens mehrere: Sie hätte ihn mittels einer ordentlichen Zugabe von Schnaps platterdings flachlegen können, setzte aber auf den zur Nüchternheit tendierenden Zustand, indem sie den Wein bis zur Unkenntlichkeit verlängerte.

 

30. Kapitel

Wir wollen zurück zu Stranges, heraus aus der aschgrauen Gemeinheit. Bleiben allerdings noch ein wenig bei ihr, nur grau ist sie nicht mehr. Rot, Grün, Gelb, ein blendendes Orange, Lila, wie die Kinder sagten, waren die Farben des Ausbruchs. Der Siegeszug Oetkers & Co., die Beliebtheit der Brausen bei uns Kindern, wieder einmal bilden Stranges keine Ausnahme, hat es geschafft, daß Geschmack vollends unabhängig von jeweiligen Geschmacksgebern gesehen wurde. Wer war Waldmeister? Nicht im entferntesten ahnten wir, daß es Waldmeister gab, und bald glaubten wir weder an Kirschen noch an Himbeeren oder Orangen. Der Geschmack war er selbst, er hieß so und hatte Farbe. Freilich hatten die Kinder schon damals die Ahnung, daß all dies künstlich sei. Wie konnte es auch anders? Wo sonst war diese Fülle, diese Pracht der Farbe, dieses Aufschäumen. Nur hier gab es die Frage nach dem Geschmack, und später beim Wassereis. Birne schmeckte nach Birne, was gab es da zu fragen. Den Sprudel gab es noch mit und ohne. Drei Flaschen ohne, Geschmack brauchte man nicht zu sagen, der fehlte ja eh. Es waren jedenfalls vor und neben der Cola Reize, die in einer unverwechselbaren penetranten Fülle da waren, die nur den Kindern gehörten, die wir liebten. Die Sachen kauften wir ja selbst. Zu Hause galt die Unterscheidung zwischen eßbar und ungenießbar, die die Eltern kaum teilten. Tapfer verteidigten sie Kohl und Kartoffeln, und nicht selten prügelten sie's in die auf dem Nachhauseweg mit allen erdenklichen Köstlichkeiten, die ein bunter Sabbel verriet, gefüllten Mägen.

 

31. Kapitel

 

Ich habe Schmerzen, wo ich nicht bin. In einer Zimmerecke oben, die ich auch mit dem Besen nicht erreiche, ein Pochen wie in einem wehen Finger. ...
Phantomfreuden habe ich nicht zu erwarten, die Freuden verbrauchen sich lieber allein. Ich schreibe mir auf: Apotheke, Hunderterpackung.

Günter Eich, Maulwürfe

 

Haben wir sie nicht schon beinahe vergessen, unsere Augusta. Wir haben uns an ihre Stürze gewöhnt, an ihre Klausuren, an Uwe Seeler und Neckermann, oder war's Schockemöhle, was tut's.

Auf ihrem Wege zum Tode verwischte Augusta ihre Spuren. Sie verlor an Härte, und merklich fanden ihre Klagen Grund und verstummten. Bei Stranges wurde heraufbeschworen. Was ist, findet hier keine Erwähnung. Hier ist wirkliches Leid stumm, und keiner, der das lärmende Geschrei um Schmerz kannte, konnte sich Augustas stummem Leid entziehen. Gern hätte ich gesagt, es ist noch nicht so weit. Es ist schon zu lang. Augustas ehemals fülliger Leib füllt sich wie eine Regentonne mit Wasser.

Armes Cousine, wir haben sie kennengelernt, kurz, sie kam zu Stranges, besuchte Augusta, oder besser, warf einen Blick auf sie. Ein Leuchten ging über Augustas Augen, sie erkannte sie und sprach mit leicht fragendem Ton: Lene? Knapp neunzig, kaum noch der Schatten ihrer selbst, war das ihr letztes Wort. Danach Stöhnen, einige Schreie; das Wasser drang höher. Wir können nicht länger warten, einmal muß sie ja sterben. Alt ist sie. Alt genug? Ein Schreck fuhr in aller Stranges Glieder. Zuerst in Armes, darin in Friedrich Karls. Ewa Maria wurde angerufen, Heinrich Anton durch Telegramm verständigt. Zur Beerdigung sind alle versammelt. Wie jede andere Beerdigung war auch diese, ein wenig heiterer vielleicht, man weint nicht vor Schreck. Nun, jedenfalls Stranges weinten nicht vor Schreck. Es wäre ihnen zu wünschen gewesen. Augusta hatte ihr Bestes getan, kein jammern, selbst Dank. Was macht man da, wenn der, den man haßte, nur noch ein elendes Wurm ist, das leidet. Zehn Jahre vorher, das wäre ein Aufatmen gewesen, aber jetzt. Nun freilich, sie versuchen es, krampfhaft: jeder erinnert den anderen: Aufatmen, endlich: zu spät.

Sie hatte Stranges noch einmal in Atem gehalten. Friedrich Karl war zuvor pensioniert worden, hatte schon ein halbes Jahr seine Lektionen im im Wegstehen, so der Ausdruck hier angebracht ist (haben wir einen besseren?) absolviert und hatte Annes großen Auftritt erlebt: Bei Augustas Sterben hatte Anne alles im Griff gehabt. Was die Frau für eine Energie hat? Der Haushalt, die kranke Schwiegermutter, einen Mann, der ihr nicht helfen kann, dabei die Kinder großgezogen. Patsch, Ende, Augusta ist tot. Das Zimmer ist frei noch dazu die Kinder aus dem Haus und im Rücken den Zwang, aufzuatmen, wo doch beide nicht wußten, wie das geht.

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