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Die Walkemühle
Landerziehungsheim von (1921-1933)
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9 Die sokratische Methode

Für jeden Unterricht, der auf der Walkemühle gehalten wurde, war die schon einige Male angeklungene sokratische Methode von großer Bedeutung.  Leonard Nelson hat 1922 diese Methode in einer Rede sehr lebendig dargestellt, die ich im folgenden in Auszügen wiedergeben werde. (39)

"Die sokratische Methode ist ... nicht die Kunst, Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren, nicht die Kunst, über Philosophen zu unterrichten, sondern Schüler zu Philosophen zu machen. Wollte ich daher von der sokratischen Methode eine rechte Vorstellung geben, so müsste ich meine Rede hier abbrechen und, statt ihnen etwas vorzutragen, mit ihnen eine philosophische Frage nach sokratischer Methode zu behandeln."

Dafür sei aber die für diesen Vortrag vorgesehene Zeit zu kurz, meint Nelson, und begrenzt daher von vorneherein seine Aufgabe darauf, wenigstens die Aufmerksamkeit auf diese Lehrart zu richten.

Wie in allen ernsthaften Wissenschaften, besonders in der Mathematik und in den Naturwissenschaften, eine Methode als allgemeingültig anerkannt wird, so sei auch in der Philosophie die Begründung ihrer Ergebnisse "nach eindeutigen, die Willkür ausschließenden Regeln vorzunehmen". Nelson will mit der sokratischen Methode in der Philosophie also keinen Kanon von Aussagen aufstellen, sondern eine Methode liefern, die es jedermann ermöglichen soll, sofern sie mit der nötigen Aufmerksamkeit betrieben wird, diese wahren Aussagen selbst zu finden. Hierbei bezieht er sich auf den griechischen Philosophen: "SOKRATES hat, wie jedermann weiß, kein System aufgestellt. Er hat wieder und wieder sein Nicht-Wissen zugestanden. Er ist jeder Behauptung entgegengetreten mit der Aufforderung, den Grund ihrer Wahrheit zu suchen. Er hat, wie es in der ,Apologie' heißt, seine Mitbürger ,ausgefragt, geprüft und ins Gebet genommen', nicht um ihnen lehrend eine neue Wahrheit zu vermitteln, sondern nur, um ihnen den Weg zu zeigen, auf dem sie sich finden lässt."

Fasziniert von den rasanten Fortschritten der Mathematik und den Naturwissenschaften, wie viele andere zu seiner Zeit, will Nelson durch die sokratische Lehrmethode nun auch die Philosophie, und hierin besonders die Ethik und die Rechtslehre, in den Rang einer objektiven Wissenschaft erheben.

Worin besteht nun genauer die sokratische Methode?

Nelson geht davon aus, dass es klare Urteile gibt, die den Einzelfall betreffen, Erfahrungsurteile, wie sie im täglichen Leben gefällt werden. In diesen verschiedenen konkreten Urteilen sei nun die allgemeine Erkenntnis enthalten, welche durch die Anwendung der sokratischen Methode ans Licht zu bringen sei. Unbedingt sei deshalb beim Philosophieren immer vom konkreten Fall auszugehen. Er führt dazu ein Beispiel an:

"Wenn wir über die Allgemeingültigkeit der Rechtsidee diskutieren wollten, so werde diese Diskussion ... durch ihren Verlauf ... dem Skeptiker Recht geben, der die Allgemeingültigkeit ethischer Wahrheiten bestreitet.  Wenn dieser Skeptiker aber heute Abend in seiner Zeitung liest, dass die Landwirte noch immer mit der Ablieferung des Brotgetreides zögern, um die Konjunktur des Getreidemarktes auszunutzen, und dass daher das Brot wieder gestreckt werden muss, so wird er nicht leicht geneigt sein, mit seiner Entrüstung darum zurückzuhalten, weil ja für den Produzenten und für den Konsumenten kein gemeinsames Recht gilt. Er verurteilt wie jeder andere den Wucher und beweist damit, dass er faktisch die metaphysische Voraussetzung der Gleichheit des Anspruchs auf Interessenbefriedigung, unabhängig von der Gunst oder Ungunst der persönlichen Lage, anerkennt."

Diese konkreten Erfahrungen seien nun zu zergliedern und mit Hilfe des Verstandes auf ihre gemeinsamen Voraussetzungen zurückzubeziehen, das sei Philosophieren.

Nelson stellt dann die Frage, welche Folgerungen daraus für den philosophischen Unterricht zu ziehen sind.

"Jene allgemeinen Wahrheiten lassen sich, sofern sie in Worten ausgesprochen werden, zu Gehör bringen. Aber sie werden darum keineswegs eingesehen. Einsehen kann nur derjenige, der von ihrer Anwendung ausgeht in Urteilen, die er selbst fällt, und der dann, indem er selbst den Rückgang zu den Voraussetzungen dieser Erfahrungsurteile vollzieht, in ihnen seine eigenen Voraussetzungen wiedererkennt." Deshalb kann der philosophische Unterricht "nur Unterricht im Selbstdenken sein, - genauer: in der selbständigen Handhabung der Kunst des Abstrahierens."

Bei Anwendung der sokratischen Methode hat der Pädagoge zuerst einmal die Aufgabe, den Schüler zur Freiheit zu zwingen, wie es auch Sokrates getan hat, indem er "durch seine Fragen die Schüler zum Eingeständnis ihrer Unwissenheit bringt und damit dem Dogmatismus bei ihnen die Wurzel abschneidet."

Nachdem so bei den Schülern Hindernisse - immer wieder neues Wissen zu erwerben durch ihre Einsicht in ihr Nicht-Wissen - abgebaut worden sind, Hindernisse, die darin bestanden, dass immer wieder ungeprüft Halbwahrheiten vertreten werden konnten, fordert Sokrates seine Schüler auf, sich zuallererst "über das Treiben der Weber, der Hufschmiede, der Wagenführer zu verständigen".  Erst nachdem "den Beobachtungen des täglichen Lebens" ihre allgemeinen Voraussetzungen abgefragt worden sind, soll dann "von dem sicheren Urteil zu dem weniger gesicherten" vorgedrungen werden.

Bei dem Versuch, seine eigene Methode auch anzuwenden, sei Sokrates dann aber gescheitert. Entgegen den suggestiven Fragen des Sokrates gehe es im Unterricht, der sich auf seine Methode stütze, zuallererst um die Ausschaltung des Dogmatismus, was "den Verzicht auf jedes belehrende Urteil überhaupt" bedeute.

Nelson fragt dann weiter: "Wie soll ein Unterricht und also Belehrung überhaupt möglich sein, wenn jegliches belehrende Urteil aus dem Unterricht verbannt ist ?

Denn die Ausflucht wollen wir doch nicht gelten lassen, dass die Forderung unmöglich so extrem gemeint sei, dass nicht hier und da zur Nachhilfe für den Schüler ein verstohlener Wink des Lehrers statthaft sei ...

Ist das Ziel der Erziehung vernünftige Selbstbestimmung, d.h. ein Zustand, in dem der Mensch sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen lässt, vielmehr aus eigener Einsicht urteilt und handelt, - so entsteht die Frage, wie es möglich ist, durch äußere Einwirkung einen Menschen zu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen.

Diese Paradoxie müssen wir lösen, oder wir müssen die Aufgabe der Erziehung fallen lassen."

Als Antwort auf diese Frage bietet Nelson an, dass Lehrer den Schülern im Unterricht allein die Methode zeigen. Er beschreibt den Lehrer für einen solchen Unterricht folgendermaßen:

"Der Lehrer, der sokratisch unterrichtet, antwortet nicht.  Aber er fragt auch nicht. Genauer: Er stellt keine philosophischen Fragen und gibt, wenn man solche an ihn richtet, unter keinen Umständen die verlangte Antwort. Er schweigt also ?  Das werden wir sehen. Jedenfalls hört man in einer solchen Aussprache oft den verzweifelten Ruf an den Lehrer: ,Ich weiß gar nicht, was Sie wollen!' - worauf die Antwort erfolgt: ,Ich ?  Ich will gar nichts', was gewiss nicht die ersehnte Auskunft enthält.  Was tut der Lehrer also ?  Er entfesselt das Frage- und Antwortspiel zwischen den Schülern, etwa durch die einleitende Äußerung: ,Hat jemand eine Frage ?'

Nun weiß aber doch jeder mit KANT, dass es schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht ist, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen solle.

Was geschieht bei ungereimten Fragen oder wenn  gar  keine  Frage  erfolgt ?   Was geschieht, wenn niemand antwortet ?

Sie sehen, von Anfang an tritt die Schwierigkeit ans Licht, die Schüler durch sich selbst zur Tätigkeit zu bringen, und damit die Versuchung für den Lehrer, den Ariadnefaden auszuwerfen.

Aber von Anfang an, ja gerade zu Anfang, muss der Lehrer standhaft sein. Wer an die Philosophie herantritt und keine einzige Frage an sie hat, was soll man von dessen Kraft erwarten, mit Ausdauer ihren verwickelten und tiefliegenden Fragen nachzuforschen ?

Was wird also der Lehrer tun, wenn keine Fragen gestellt werden ?  Er wird warten, bis die Fragen sich einstellen. Er wird höchstens die Bitte aussprechen, in Zukunft über die Fragen vorher nachzudenken, um der Zeitersparnis willen. Aber er kann nicht, um der Zeitersparnis willen, den Schülern die Mühe des Fragens abnehmen. Er würde vielleicht ihre augenblickliche Ungeduld besänftigen, aber um den Preis, die erst zu erweckende philosophische Ungeduld in ihrem Keim zu ersticken. ...

Der Leiter wird nun gewiss nicht jede Frage einer langwierigen Untersuchung unterwerfen. Er wird bestrebt sein, seine eigene Einschätzung der Fragen für den Gang der Aussprache nutzbar zu machen. Was aber nur heißt: Er wird aufschlussreiche Fragen oder solche, die bei ihrer Behandlung typische Fehler ans Licht ziehen, in den Vordergrund treten lassen, indem er etwa an eine solche Frage die weitere anknüpft: ,Wer hat verstanden, was eben gesagt worden ist?' Hierin liegt weder ein Hinweis auf die Zweckmäßigkeit noch auf die Unzweckmäßigkeit jener Frage, sondern lediglich die Aufforderung, sich mit ihr zu beschäftigen, durch Kreuz- und Querfragen ihren Sinn herauszuholen.

Aber wie verhält es sich nun mit den Antworten ?   Wie werden sie erledigt ?

Zunächst gilt für sie das Gleiche wie für die Fragen. Unverständliche Antworten werden übergangen, damit der Schüler den Vorbedingungen einer wissenschaftlichen Aussprache sich anbequemen lernt. Im übrigen werden die Antworten ebenfalls durch Gegenfragen untersucht, wie etwa die:

,Was hat die Antwort mit unserer Frage zu tun?'

oder: ,Auf welches Wort kommt es Ihnen an?'

oder: ,Wer hat zugehört?'

,Wissen Sie selbst noch, was Sie eben gesagt haben?'

,Von welcher Frage sprechen wir eigentlich?'

Je einfacher die Fragen werden, desto mehr entschwindet nun freilich bei dem Gefragten die Geistesgegenwart. Erbarmt sich dann ein mitfühlendes Herz und eilt dem Bedrängten mit der Erklärung zu Hilfe: ,Der Kommilitone hat wohl sagen wollen: . . . ', so wird solche Hilfe kaltherzig abgewiesen mit der Bitte, die Kunst des Gedankenlesens beiseite zu lassen und sich statt dessen lieber einmal um die bescheidenere Kunst zu bemühen, das, was man sagen will, auch wirklich zu sagen.

Aus dem Gesagten geht schon hervor, dass die Untersuchungen keineswegs steif verlaufen. Es springen Fragen und Antworten durcheinander.  Manche verstehen die Entwicklung, manche verstehen sie nicht. Diese suchen dann durch tastende Zwischenfragen die Verbindung wieder herzustellen. Aber die anderen drängen darauf, sich in ihrem Gang nicht aufhalten zu lassen. Sie übergehen jene Fragen. Da tauchen neue, verständnislosere Fragen auf. Schon beginnen Einzelne zu schweigen. Es schweigen ganze Gruppen. Dazwischen geht die Unruhe der immer zielloser werdenden Fragen. Selbst die anfangs noch Sicheren lassen sich dadurch verwirren. Sie verlieren gleichfalls den Faden. Sie wissen nicht, wie sie ihn wiederfinden sollen. Endlich weiß niemand mehr, wohin die Aussprache steuert.

Die schon bei SOKRATES berühmte Verwirrung ist eingetreten. Alle sitzen ratlos da. Das anfangs Gewisse ist ihnen ungewiss geworden. Anstatt Klarheit in ihre Vorstellungen zu bringen, fühlen sie sich der Fähigkeit beraubt, durch Denken überhaupt irgend etwas klarzustellen."

Es gelte, die Schüler "in die Irre zu schicken, um die Überzeugungen zu erproben, um das nur übernommene Wissen von der Wahrheit zu sondern, die nur im eigenen Nachdenken langsam in uns zur Klarheit reift."

Hier mache die sokratische Methode dann "nur das Unheil offenbar, das als Folge des dogmatischen Unterrichts in den Köpfen angerichtet ist."

"Denn der dogmatische Unterricht hat es leicht, sich zu höheren Regionen zu erheben. Da ihm an der Selbstverständigung nichts liegt, erkauft er seinen Scheinerfolg mit einer immer tiefer wurzelnden Unredlichkeit."

Die sokratische Lehrmethode wird von Nelson als "große Anstrengung des Willens" und "harte Arbeit" beschrieben, wo "Feuerwerk des Geistes" genauso unfruchtbar sei, wie Geistesstumpfheit. Sache des Leiters sei es, die nun einmal unerlässlichen Forderungen an den Willen unnachgiebig hochzuhalten, aus Achtung vor dem Schüler selbst. Fehle es ihm an der dazu nötigen Festigkeit, lasse er sich zu angeblichen Erleichterungen bewegen oder führe er sie selbst herbei, um die Gefolgschaft festzuhalten, so habe er sein philosophisches Ziel bereits verraten."

Zum Schluss seiner Rede beschreibt Nelson dann noch die Notwendigkeit, auch in der Mathematik sokratisch zu unterrichten, hier nicht so sehr als wissenschaftliche Methode der Erkenntnis überhaupt, wie in der Philosophie, sondern einfach um einen sinnvollen, auf Verstehen gründenden Unterricht zu ermöglichen.

Damit beendet Nelson seinen Vortrag.

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